Ein Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gilt vielen inzwischen als wahrscheinlichste Ursache für den Absturz des russischen Flugzeugs über Ägypten. Der Nahost-Experte Günter Meyer von der Universität Mainz ist davon nicht unbedingt überzeugt. Gleichwohl sei der IS derzeit weltweit die gefährlichste und mächtigste Terrororganisation.
Nach dem Absturz der russischen Passagiermaschine über der Sinai-Halbinsel, bei dem 224 Menschen starben, gibt es immer mehr Stimmen, die dahinter einen Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat vermuten. Ist dem IS ein solcher Anschlag zuzutrauen?
Günter Meyer: Denkbar ist es. Der IS verfügt über eine beträchtliche Zahl an Akteuren auf der Sinai-Halbinsel, die für einen solchen Anschlag eingesetzt werden könnten.
Darüber hinaus hat er grosse finanzielle Mittel, sodass etwa auch Flughafen-Mitarbeiter zur Mitwirkung gekauft werden könnten.
Nach der Intervention der Russen am 30. September hat der IS zudem Racheaktionen angekündigt: Angriffe auf Russen, wo immer es ihnen möglich ist. Ein Anschlag auf ein russisches Passagierflugzeug würde also in die Agenda des IS passen.
Aber Sie haben Zweifel?
Normalerweise sagt der IS nach Anschlägen genau, wie er sie bewerkstelligt hat. In diesem Fall behauptet er zwar, dass er es war, sagt aber nicht, wie er es gemacht hat.
Das einzige Detail wurde in einem Video des IS verbreitet, das zeigt, wie eine Boden-Luft-Rakete zum Abschuss vorbereitet wird. Eine solche Rakete könnte aber ein Flugzeug in dieser Höhe nicht abschiessen.
Davon abgesehen gibt es vom IS bislang nur allgemeine Aussagen zum Hergang, kein Insiderwissen.
Andere mögliche Ursachen sollten noch nicht ausgeschlossen werden, etwa eine Triebwerksexplosion.
Zudem gibt es auf der Sinai-Halbinsel nicht nur den IS. Durch das brutale Vorgehen des ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi gegen die Muslimbrüderschaft sind einige ihrer Anhänger in den Untergrund gegangen und haben sich in diversen Gruppen zusammengeschlossen, die immer wieder Anschläge verüben.
Anders als der IS sind diese Gruppen aber bisher nicht mit Bekennerschreiben in die Öffentlichkeit getreten.
Auch wenn der IS für diesen Anschlag nicht verantwortlich sein sollte: Ist er mittlerweile die weltweit mächtigste Terrororganisation?
Das ist unbestritten. Die einzige Organisation, die anfangs noch als Konkurrenz anzusehen war, ist al-Qaida. Dieses Netzwerk aus regionalen und lokalen Terrorzellen spielt inzwischen aber nur noch im Jemen eine wichtige Rolle.
Das Besondere am IS ist, dass er sich ein eigenes Territorium geschaffen hat, das über bestehende Landesgrenzen reicht. Das setzt ihn von allen anderen Terrororganisationen ab.
Auch die Dimension des ausgeübten Terrors geht über die anderer Terrororganisationen hinaus: Die Anhänger des IS sind in ungleich stärkerem Masse bereit, ihr Leben für seine Ideologie zu opfern. Selbstmordanschläge, etwa durch mit Sprengstoff beladene Lkw, die in gegnerische Verteidigungsanlagen gefahren werden, sind für den IS eine militärische Strategie, die in dieser Dimension nie zuvor praktiziert wurde.
Was macht den IS ausserdem so gefährlich?
Trotz einiger Verluste, die der IS jüngst etwa im Nordosten Syriens hinnehmen musste, sind sein militärisches Potenzial und seine administrativen Fähigkeiten nach wie vor sehr gross.
Es ist ihnen gelungen, erfahrene Experten aus der gesamten arabischen Welt mit Spitzenhonoraren zu locken. Der IS verfügt über viel Geld, vor allem durch Einnahmen aus dem Ölschmuggel, aus Steuern, durch Erpressung, den Verkauf von Antiquitäten und einiges mehr. Zudem ist sein Organisationsgrad sehr hoch.
Funktioniert der IS tatsächlich wie ein Staat?
Er ist ein perfekt durchorganisierter Staat mit einer Regierung, Ministerien, Stadt- und Regionalverwaltungen, Medien und Propagandaorganisationen, einem eigenen Geheimdienst, der die Anhänger überwacht und mögliche Abtrünnige bestraft.
Es gibt auch eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und ein neues Schulsystem, das an den ideologischen Prinzipien des IS orientiert ist. Das "Kalifat" verfügt über alle relevanten Infrastruktureinrichtungen, die man von einem Staat erwarten kann.
Wie sehen Sie die Chancen für eine erfolgreiche Bekämpfung des IS?
Am 10. Oktober hat sich im Nordosten Syriens ein neues, ethnisch und religiös übergreifendes Bündnis formiert, die sogenannten Demokratischen Kräfte Syriens. Dazu gehören kurdische Milizen sowie christlich-assyrische und arabische Kampfverbände. Es wird von den USA unterstützt und hat im Nordosten bereits erste Erfolge erzielt.
Wenn es gelänge, grössere Gebiete im Euphrattal zu erobern, wäre der westliche Teil des IS, der von Aleppo bis zur türkischen Grenze reicht, von dem irakischen Teil abgetrennt. Damit wäre die logistische Versorgung erheblich gefährdet.
Hoffnung geben zudem die jüngsten Sondierungsgespräche in Wien vor etwas mehr als einer Woche. Russland und die USA einigten sich hier auf die Notwendigkeit eines politischen Prozesses, um einen Machttransfer in Syrien zu erreichen.
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