Vor 25 Jahren marschierten die USA erstmals im Irak ein. Im Anschluss errichteten sie Militärbasen auf der arabischen Halbinsel – für radikale Muslime ein Sündenfall. Wir sprachen mit dem Autor Bruno Schirra über die Ursachen des Terrors, die Verantwortung des Westens, Krisen der islamischen Gesellschaften - und eine düstere Zukunft.

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Herr Schirra, der islamistische Terror scheint die Welt derzeit im Griff zu haben. Ist es eigentlich möglich, eine Geburtsstunde des Phänomens zu bestimmen?

Bruno Schirra: Nein, die gibt es nicht. In der Vergangenheit des Islam gab es immer wieder terroristische Bewegungen, etwa die Assassinen, die vor etwa 1.000 Jahren den Nahen und Mittleren Osten in Angst und Schrecken versetzten.

In der Neuzeit ist die Gründung der Muslimbruderschaft, einer islamischen Erweckungsbewegung, im Jahr 1928 bedeutend. Sie ist die Mutterorganisation ausnahmslos aller sunnitisch-dschihadistischen Terrorgruppen.

Verfolgen sie deren Entwicklung zurück, stossen sie immer wieder auf personelle wie religionsideologische Verbindungen zur Muslimbruderschaft, die heute noch in mehr als 90 Staaten aktiv ist.

Schliesslich hat 1978/1979 die schiitische Revolution im Iran, der der Sturz des pro-westlichen Schahs von Persien vorausging, ein eminent wichtiges Signal in die muslimische Welt gesendet.

Welches denn?

Das Signal hiess: "Wir Muslime sind einzig und allein auf Grund unserer Glaubensstärke in der Lage, den übermächtigen Westen zu besiegen."

Oft wird auch der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan 1979 genannt. Osama Bin-Laden und andere Terroristen haben sich dort radikalisiert.

Afghanistan war ein Trauma für tiefgläubige Muslime. Die 'gottlose', kommunistische Sowjetunion greift die Umma (die islamische Gemeinschaft – d. Red.) an und die islamischen Staaten reagieren einfach nicht. Verschiedene terroristische Gruppen haben sich dort gebildet, die Anfänge von Al-Kaida liegen im Afghanistan-Krieg.

Obwohl die Bedeutung der Mudschaheddin, der ausländischen Rebellen, für die militärische Niederlage der Roten Armee in Afghanistan immer masslos überschätzt wird.

Der globale Dschihad wusste jedoch auf brillante Art und Weise das sowjetische Desaster in Afghanistan propagandistisch für sich auszunutzen. 1991 marschierten die USA erstmals im Irak ein, um dem von Diktator Saddam Hussein überfallenen Kuwait zu Hilfe zu eilen.

Hat der Krieg auch schon zu einer nennenswerten Radikalisierung von Muslimen in der Region geführt?

Ohne Zweifel. Der zweite Irakkrieg hat dem globalen Dschihad einen ungeheuren Auftrieb gegeben. Die auf der arabischen Halbinsel nach dem Krieg geschaffenen US-Militärbasen sind für salafistische und dschihadistische Gruppierungen weit mehr als nur ein Sündenfall.

"Ungläubige, Juden und Kreuzzügler" auf heiligstem muslimischen Boden stationiert – das hat das Wachstum des Terrorismus enorm befördert.

Ist der Westen hauptverantwortlich für das Entstehen des islamistischen Terrors?

Nein, nicht der vermeintlich "böse Westen" ist Schuld. Die Ursachen liegen viel tiefer in den islamischen Gesellschaften selber.

Die Umma hat ihre einstige Stärke, ihre Grösse längst verloren, noch vor dem Einfall westlicher Kolonialmächte in den Nahen und Mittleren Osten. Die Schwäche der Umma hat den erst ermöglicht.

Die arabische und muslimische Welt wird zudem seit langen Dekaden ausnahmslos von Führern beherrscht, denen das Schicksal der Menschen in ihren Ländern herzlich egal ist. Lähmende Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit beherrschen ihren Alltag.

Wie reagieren sie darauf?

Die Bevölkerung fragt sich: "Warum haben wir diese Malaise? Was ist die Lösung?" Viele suchen die Antworten bei radikalen Gruppen und deren Ideologie.

Trägt der Westen zumindest eine Mitverantwortung?

Die zweifellos begangenen Fehler des Westens im Umgang mit der arabisch-islamischen Welt haben deren Krise sicherlich befördert – aber nicht verursacht. Die arabisch-islamische Welt befindet sich seit vielen Jahren - und viel schlimmer noch: auf lange Jahre - in einer tiefen Krise.

Der Islam befindet sich seit Jahrhunderten in einem Zustand der Krankheit, ist in Orthodoxie, ist in kultureller, in religiöser Unbeweglichkeit erstarrt. Diese innerislamischen Ursachen werden durch westliche Sündenfälle wie Guantanamo oder den Irakkrieg 2003 lediglich befeuert.

Was waren die grössten Fehler im Irak?

Erstens die Auflösung der irakischen Armee, die Hunderttausende in Perspektivlosigkeit gestürzt hat.

Zweitens die Entbaathisierung des Landes, also der Versuch, alle Mitglieder der zuvor herrschenden Baath-Partei zu bestrafen, aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. Sogar der kleine Haumeister wurde auf die Strasse gesetzt. Und schliesslich das Ignorieren des über Jahrhunderte gewachsenen Glaubenshasses zwischen Sunniten und Schiiten.

Der Irak ist heute zu einem Statthalter der schiitischen Islamischen Republik Iran geworden.

Für das barbarische Prinzenregime in Saudi-Arabien - die sunnitischen Gralshüter der heiligsten Städte des Islam, Mekka und Medina - ein unerträglicher Zustand, weshalb sie bis zum heutigen Tag ausnahmslos jede sunnitische Terrorgruppe unterstützen: Mit Geld, Waffen und wahhabitischen Glaubenswahn. Heute ist der Irak Brutstätte so ziemlich jeder dschihadistischen Terrorgruppe...

... wofür letztlich die USA die Verantwortung tragen.

Der Irakkrieg ist der grosse Sündefall von George W. Bush und seiner Regierung.

Fällt die Bilanz in Afghanistan, das nach den Anschlägen am 11. September 2001 angegriffen wurde, besser aus?

Bedingt. Zwar war der Krieg durch ein UN-Mandat gedeckt und es blieb den USA nach den Anschlägen von 9/11 auch nichts anderes übrig, als dort einzumarschieren. Aber auch hier hat man noch nicht einmal ansatzweise ein realistisches Konzept für eine Nachkriegsordnung gehabt.

Die Vorstellung, ausgerechnet in Afghanistan eine westliche Demokratie zu etablieren, war gelinde gesagt mehr als nur naiv.Zudem hätten die USA Pakistan als grössten Unterstützer der Taliban nicht freie Hand lassen dürfen.

Oft wird behauptet, auch das US-Gefangenlager Guantanamo hätte Tausende neue Terroristen geschaffen.

Ich halte Guantanamo, so widerwärtig diese Einrichtung zweifellos ist, für eine Fussnote bei der Stärkung des globalen Dschihad. Wie gesagt: Die wesentlichen Ursachen liegen in den islamischen Gesellschaften selber.

In den 1980er Jahren gab es den Staatsterror durch Libyen, Syrien oder den Irak. Inwiefern unterscheidet der sich eigentlich von dem Vorgehen heutiger dschihadistischer Terrorgruppen?

Dieser Staatsterror richtete sich gegen die USA, gegen Israel, gegen Europa und gegen andere muslimische Herrscher. Es war Terror von oben dirigiert. Das war im Vergleich zu dem, was heute geschieht, relativ "harmlos".

Der heutige Terrorismus hingegen ist eine Massenbewegung, die sich immer weiter ausdehnt und professionalisiert. Es gibt rund 1,6 Milliarden Muslime. 90 Prozent lehnen Terrorismus entschieden ab – der Rest hingegen sympathisiert sehr wohl mit dschihadistischen Ideen. Das sind immerhin 160 Millionen Menschen.

Also sind sie wenig optimistisch, was die Schwächung der Bewegung betrifft?

Ja. Niemand will und wird sich an einer Bodenoffensive gegen den IS beteiligen, die Terrorgruppe wird vermutlich noch viele Jahre weiter wirken und in Syrien und im Irak Nachwuchs rekrutieren können. Sie breitet sich zudem in ganz Nordafrika aus, fasst Fuss in Vorder- und in Süd-Ostasien, in Afrika – und in Europa.

Terrorakte wie in Paris werden sich in den kommenden Monaten und Jahren wiederholen – werden zum Alltag in Deutschland, in Belgien, in ganz Europa gehören. Und: Europa hat keine Antwort darauf. Das wird alles noch viel schlimmer werden und uns noch eine ganze Weile begleiten.

Es ist damit zu rechnen, dass rechtsradikale Bewegungen in vielen europäischen Ländern deutlich stärker werden – zur tiefen Befriedigung des globalen Dschihad. Das ist das doch Wasser auf dessen Mühlen.

Ist diese Schreckensvision nicht übertrieben?

Nein. Ich sage das nicht, weil ich ein Kulturpessimist bin, ich bin vielmehr Realist.

Gäbe es denn auch ein Szenario für die Schwächung des Terrors in den nächsten Jahren?

Es müsste aus den islamischen Ländern heraus eine humanistische Erweckungs- und Veränderungsbewegung geben. Die geistigen Eliten, die Theologen, die Rechtsgelehrten, die Intellektuellen müssten aus dem Islam heraus ihre Gesellschaften neu zivilisieren – von innen.

Dies geschieht derzeit nicht. Stattdessen herrscht die Barbarei des Glaubenswahn.

Die wenigen islamischen Stimmen, die einen human praktizierten und human gelebten Islam fordern – und den kann es sehr wohl geben, die Grundlagen des Islams geben dies sehr wohl her – können dies nur aus dem westlichen Exil heraus. Allerdings sind sie auch dort ihres Lebens nicht sicher. Geschweige denn in ihren islamischen Heimatländern.

Zur Person: Bruno Schirra ist Journalist und Buchautor. Der 57-Jährige war in den 1980ern in Afghanistan als Lastwagenfahrer unterwegs, seit vielen Jahren schreibt er über die islamische Welt. Von seinem 2015 erschienenen Buch "ISIS – Der globale Dschihad. Wie der "Islamische Staat" den Terror nach Europa trägt" erscheint im Mai eine erweiterte Taschenbuchausgabe.
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