Nach dem brutalen Angriff in Mannheim auf einen Islamkritiker und einen Polizisten steht der politische Islamismus wieder im Fokus. Hat Deutschland die Gefahr zu lange unterschätzt?
Islamismus-Experte Ahmad Mansour sagt Ja. Und erklärt im Interview, welche grundfalschen Annahmen in der Diskussion kursieren.
Herr Mansour, immer wieder ist vom politischen Islamismus die Rede. Was genau ist das?
Ahmad Mansour: Der Verfassungsschutz beobachtet vor allem zwei grosse Gruppen mit verfassungsfeindlichen Elementen: Zum einen all die Gruppierungen, die Gewalt befürworten oder sogar durchführen – also zum Beispiel Jihadisten, Anhänger des IS, Al-Shabaab, Teile der salafistischen Szene, Al-Qaida. Von diesen Gruppen ist in den letzten Jahren eine grosse Terrorgefahr ausgegangen und sie standen im Fokus der Berichterstattung. Die zweite Gruppe, die von Verfassungsschutz beobachtet wird, nennt sich legalistischer Islamismus.
Was steckt dahinter?
Es handelt sich um eine Gruppe, die nach aussen harmlos auftritt, sich von Gewalt distanziert, aber in ihren Bestrebungen undemokratische und freiheitsfeindliche und verfassungsfeindliche Elemente hat. Sie versucht, mit demokratischen Mitteln undemokratische Elemente zu etablieren.
Wer sind die Akteure dieser Gruppe und wie erkennt man sie?
Das sind vor allem die Muslimbrüder, die zum Beispiel in Ägypten, in Gaza, Tunesien, der Türkei und in vielen arabisch-muslimischen Ländern versuchen, an die Macht zu kommen und dann ihre Autorität zu zementieren. Das konnte man auch im Iran mit der schiitischen Version dieses politischen Islams beobachten. Diese Ideologie erkennt man daran, dass sie den Islam politisiert und bei allen grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen den Koran als den verpflichtenden Rahmen vorsieht und nicht die Menschenrechte oder den Willen der Bevölkerung.
Ist es auch der Plan für Europa, hier die Demokratie abzuschaffen?
Hier in Europa wissen sie, dass sie in der näheren Zukunft nicht an die Macht kommen und einen Scharia-Staat gründen können – aber sie wollen viel mehr Einfluss auf die Muslime hierzulande nehmen, diese beeinflussen und für sich gewinnen. Sie wollen ihre Kritiker diffamieren und delegitimieren sowie in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik ihre Werte geltend machen. Die Strategie ist, mit demokratischen Mitteln die Demokratie zu unterwandern.
Welche Werte sollen dabei verbreitet werden?
Der politische Islam strebt einen Scharia-Staat an, hierin unterscheidet er sich nicht vom IS. Was die Methoden angeht, so wollen sie aber mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen. Die Grundwerte dieser Ideologie stehen im Widerspruch zu unserem Grundgesetz, sei es die Ablehnung der sexuellen Selbstbestimmung, die Ablehnung der Meinungsfreiheit oder die Verbreitung antisemitischen und antiwestlichen Gedankenguts.
Wie etabliert ist der politische Islamismus hierzulande?
Sehr etabliert, denn er hat realen Einfluss auf die muslimischen Communities, wenn es um Fragen rund um den Islam in Deutschland geht oder bei politischen Gesprächen. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Er ist eine absolute Minderheit innerhalb der muslimischen Community. Laut Verfassungsschutz sprechen wir von ungefähr 28.000 Mitgliedern, die beobachtet werden, der Grossteil davon legalistische islamische Akteure. Wir haben aber fünf Millionen Muslime in Deutschland.
Wo verläuft die Grenze zwischen religiösem Islamismus und politischem Islamismus?
Menschen, die eine Religion ausleben wollen – egal ob konservativ oder liberal – und dabei nicht die Demokratie abschaffen wollen, haben mit den Strukturen des politischen Islamismus nichts zu tun. Der Grundfehler, den wir in Deutschland machen: Wir suchen immer Akteure, mit denen wir über religiöse Fragen verhandeln wollen. Dabei wollen wir dem Islam quasi kirchliche Strukturen aufzwingen und mit Verbänden verhandeln, die teilweise politische Islam-Elemente vertreten und vom Ausland gesteuert sind. Wir vergessen dabei die Mehrheit der Muslime, die in solchen Diskursen überhaupt keine Stimme hat.
Herausforderungen für die Integration
Wie gefährlich ist der politische Islamismus?
Vor allem nach dem 7. Oktober haben wir in vielen unterschiedlichen europäischen Ländern gesehen, wie gefährlich der politische Islam ist; seine Vertreter sind in der Lage, grosse Teile der muslimischen Communities gegen Israel und Juden aufzuhetzen. In Frankreich zum Beispiel ist die Einflussnahme politischer Islam-Akteure auf kommunaler Ebene schon seit Jahren enorm gross. Da können die Parteien keine Politik machen, ohne die Zustimmung des politischen Islam zu haben. Es sind Parallelgesellschaften entstanden, sie haben Kindergärten und Schulen etabliert und verbreiten ihre eigenen Werte auch an die nächste Generation von Muslimen. Dadurch entstehen enorme Integrationsprobleme.
Wie ist es gemeint, dass die Parteien keine Politik ohne den politischen Islam machen können?
Es gab in Frankreich Untersuchungen, die gezeigt haben, dass kommunale Politiker in den Vororten von Paris die Stimmen der Muslime brauchen, um gewählt zu werden. Akteure des politischen Islam versprechen solchen Politikern Stimmen, wenn sie muslimische Schulen und Kindergärten genehmigen und wenn sie die Augen vor den Aktivitäten des politischen Islam verschliessen. Hierdurch entstehen Freiräume für die Aktivisten, die diese nutzen, um ungestört ihre Ideologie zu verbreiten und darüber hinaus, mit der Etablierung von Islamparteien, noch mehr Einfluss in der Politik zu bekommen.
Sie haben den 7. Oktober angesprochen. Welche Rolle spielt er?
Oft stehen die Werte, die diese Vereine und Organisationen mitbringen, im Widerspruch zu den Grundwerten unserer Gesellschaft. Das führt dann dazu, dass die historische Verantwortung Deutschlands und die Staatsräson abgelehnt wird und Leute auf der Strasse antisemitische Parolen rufen. In Frankreich ist es mittlerweile so weit, dass aus Angst vor Reaktionen in diesen Milieus die Aussenpolitik angepasst wird. Das zeigt, wie gefährlich diese Entwicklung sein kann.
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In welchem Punkt wurde die Aussenpolitik angepasst und ist das auch für Deutschland zu befürchten?
Macron hat nach dem 7. Oktober eine pro-israelische Haltung gezeigt, sogar eine militärische Allianz gegen die Hamas vorgeschlagen. Nach mehreren Anschlägen in Frankreich und aggressiven Demonstrationen steht Macron Israel mehr und mehr kritisch gegenüber und versucht dadurch, sich Ruhe im eigenen Land zu erkaufen. In Deutschland ist die Haltung der Politik noch sehr pro-israelisch, aber auf der Strasse merkt man, dass diese Haltung von sehr vielen Muslimen abgelehnt wird.
Wurde der politische Islamismus in Deutschland zu lange unterschätzt?
Ja, definitiv. Wir waren sehr naiv und nicht bereit, alles zu sehen. Zu oft wurde nach organisierten Muslimen gesucht, die aber massiv aus dem Ausland unterstützt werden – von Ländern, die den politischen Islam verbreiten wollen. Diejenigen, die gewarnt haben, wurden zu schnell als Krawallmacher, Islamhasser oder Rassisten abgetan. Dabei geht es nicht um den Kampf gegen Muslime. Es geht um den Kampf gegen politische Islam-Akteure.
Lag der Fokus zu sehr auf Rechts- oder Linksextremismus?
Durch Anschläge des IS und Ausreisen dorthin lag die Priorität in den letzten Jahren bei der Bekämpfung von Terror, Jihadismus und den IS-Strukturen. Aber dabei haben wir komplett vergessen, dass andere Akteure genauso gefährlich sind. Der Kampf gegen Extremismus wurde zu selektiv geführt.
Wie würde man den Kampf richtig führen – mit speziellen Ermittlungsbehörden?
Wir sollten eine Grundsatzfrage stellen: Wollen wir, dass die Muslime Teil von Deutschland sind oder nicht? Wenn wir sagen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland, dann können wir nicht zulassen, dass der Grossteil dieser religiösen Strukturen vom Ausland finanziert wird. Man kann nicht sagen: "Ich möchte, dass der Islam zu Deutschland gehört, aber die Mehrheit der Moscheen in Deutschland wird vom Ausland finanziert."
Was bedeutet das in der Konsequenz?
Wir müssen zum einen darüber nachdenken, wie wir Strukturen in Deutschland schaffen, die eventuell wie in den Kirchen von den Gläubigen, von den Mitgliedern getragen werden und unabhängig von Ausland sind. Zum anderen, Österreich macht es vor: Wir brauchen eine Art von Forschungszentrum, das den politischen Islam beobachtet und wissenschaftlich dazu publiziert. Ich war sehr enttäuscht, dass Nancy Faeser den Arbeitskreis politischer Islam aufgelöst hat. Wir brauchen Strukturen, die beobachten und immer wieder aufzeigen, wer da mit wem gemeinsame Sache macht.
Über den Gesprächspartner
- Ahmad Mansour ist Diplom-Psychologe und Experte für Extremismusbekämpfung. Er begleitet Familien von radikalisierten Jugendlichen, Aussteiger und verurteilte Terroristen. Er berät das LKA Berlin und ist Lehrbeauftragter an Polizei- sowie Hochschulen.
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