Islamistische und salafistische Videos sind auf TikTok oft nur einen Klick von Schmink- und Beziehungstipps entfernt. Auf der Kurzvideo-Plattform erreichen islamistische Prediger ein Millionenpublikum. Dabei tätigen sie problematische Aussagen – etwa, wenn sie behaupten, Frauen dürften nur in bestimmten Berufen arbeiten oder das Alter sei für die Heirat egal. Wieso die Videos so erfolgreich sind und welche Ziele dahinterstecken, erklärt Expertin Jamuna Oehlmann.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sie tragen ein muslimisches Gewand, Halstuch und Gebetsmütze und sitzen mit langem Bart vor der Kamera. In Videos, die meist kürzer als 30 Sekunden sind, beantworten islamistische Prediger Fragen wie: "Darf man Nagellack tragen?", "Darf man den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen?" oder "Darf man Hausaufgaben abschreiben?". Teilweise haben die Videos Aufrufe in sechsstelliger Höhe.

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Das Ganze spielt sich auf TikTok ab, einer sozialen Plattform, die die religiöse Extreme längst für sich entdeckt hat. In Deutschland nutzen über 70 Prozent der 16- bis 19-Jährigen die Plattform, das wissen auch die Islamisten. Mit geschickter Inszenierung gelingt es ihnen, dass sich immer häufiger salafistische oder islamistische Inhalte zu Tanz-, Schmink- und Katzenvideos gesellen.

Islamismus auf TikTok

Dabei vermitteln sie problematische Inhalte. Auf Fragen wie "Darf man Frauen schlagen?" antworten sie nicht mit einem klaren "Nein", behaupten ausserdem, Frauen dürften nur dann arbeiten, wenn sie bei dem Beruf nicht mit Männern zusammenarbeiten müssten. Weitere Aussagen: Man dürfe zwar mit Christen befreundet sein, der beste Freund könne es aber nicht werden und für das Heiraten sei das Alter egal.

Jamuna Oehlmann von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus beobachtet Islamismus im Netz schon seit Langem. "Eigentlich ist TikTok in den Augen der islamistischen Akteure selbst eine westliche Verführung. Aber an dieser Stelle sind sie Opportunisten und sagen: Dort sind die jungen Leute, dort erreichen wir sie", sagt sie. Die Medienkompetenz der islamistischen Akteure sei hoch. "Schon nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 wussten sie die Bilder geschickt zu nutzen", erinnert die Expertin.

Verbindungen zu Hizb ut-Tahrir

Die Gruppierungen, die derzeit am virulentesten im deutschsprachigen Raum predigten, würden alle von der islamistischen Hizb ut-Tahrir abstammen. Die Bewegung strebt ein globales Kalifat an und wurde in Deutschland 2003 verboten. Es gibt aber hierzulande weiterhin Gruppierungen, die mit ihr kooperieren oder von ihr abstammen.

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"Diese Gruppierungen, wie Muslim Interaktiv, Realität Islam und Generation Islam, haben alle leicht unterschiedliche Ausrichtungen, aber das grosse Ziel ist, andere für ihre Sache zu begeistern", sagt Oehlmann. Es gehe nicht unbedingt darum, ein Kalifat in Deutschland auszurufen, aber man wolle die Utopie eines Kalifates und einer muslimischen Weltordnung an anderen Orten dieser Welt am Leben erhalten.

Schwarz-Weiss-Lösungen

"Einige dieser Gruppierungen verherrlichen Gewalt, andere sind weniger gewaltverherrlichend und trotzdem sehr problematisch", sagt die Expertin. Die Schwierigkeit: Häufig ist die Grenze zwischen solchen Inhalten, die man als sehr streng muslimisch und konservativ auslegen könnte und solchen, die etwa Rechte von Frauen einschränken, nicht leicht zu ziehen.

Die Videos würden bei Jugendlichen so gut verfangen, weil sie oft eine Schwarz-Weiss-Lösung anbieten, erklärt Oehlmann. Wenn man den Predigern regelmässig zuschaue, baue sich Vertrautheit auf. "Man hat den Eindruck, man kennt die Person. So hat der Rat eines islamistischen Predigers online teilweise mehr Gewicht als der Rat, der von echten Menschen im Leben kommt.

TikTok als Suchmaschine

"Viele Jugendliche benutzen TikTok als Suchmaschine. Wenn man sich fragt, ob man als Muslima Nagellack tragen darf, liefern islamistische Prediger klare Antworten", sagt sie. Man bekomme einen klaren Handlungsleitfaden an die Hand. Wer nach Kampfsport, Kosmetik oder Beziehungstipps suche, könne schnell bei islamistischen Inhalten landen, denn die Akteure würden die Themen bewusst verknüpfen.

"Es ist leider nach wie vor so, dass Jugendliche, die vielleicht aus der zweiten oder dritten Generation von Einwanderern in Deutschland leben und sich mit ihrer muslimischen Identität auseinandersetzen möchten, hauptsächlich an salafistische oder islamistische Inhalte geraten", sagt Oehlmann. Die muslimische Community selbst hat nicht die Möglichkeiten, ihre Lehre an Jugendliche so zu attraktiv zu verpacken, wie die Islamisten es tun.

Gefahr der Radikalisierung

"Ausserdem ist die islamistische Community auf TikTok sehr umarmend. Wenn sich eine neue Person anschliessen möchte oder sich interessiert zeigt, wird sie sehr schnell aufgenommen", so die Expertin. Das vermittle gerade Jugendlichen das Gefühl, angenommen zu werden. Die islamistischen Prediger würden bewusst Themen aus ihrer Alltagsrealität besetzen, etwa Diskriminierungserfahrungen.

Dass die islamistischen Videos auf TikTok direkt zu einer Radikalisierung führen, ist laut Oehlmann aber zu kurz gedacht. Es seien unterschiedliche Faktoren, die dazu beitragen könnten. Meist treffe es Jugendliche, die auf der Suche nach einem Sinn und Zugehörigkeit seien.

"Nur ein Bruchteil der Jugendlichen, die mit extremen Positionen in Berührung kommen, schliesst sich tatsächlich auch an", erinnert Oehlmann. Gefährlich sei aber, dass die Jugendlichen, die die Videos zu sehen bekommen, sich in ihrem Alter oft noch nicht kritisch damit auseinandersetzen könnten. "Gleichzeitig ist es eine Lebensphase, wo die Eltern nicht unbedingt einen Einblick haben, was Jugendliche konsumieren und selbst oft nicht einschätzen können, wie problematisch das ist", sagt die Expertin.

Präventionsarbeit nötig

Aus ihrer Sicht geschieht auf Seiten der Plattformbetreiber zu wenig und auch die Präventionsarbeit im digitalen Raum hat noch Aufholbedarf. "Die Politik sollte Möglichkeiten und Förderungen schaffen, um demokratische Inhalte in den sozialen Medien anzubieten", sagt sie.

Die Anschläge, die in den letzten Monaten vereitelt wurden, seien in vielen Fällen von jungen Personen geplant worden, die sich auch über TikTok radikalisiert hätten. "Diese Verantwortung müssen sich Plattformbetreiber bewusst machen", sagt sie. Personengruppen wie Eltern und Lehrer sollten TikTok ernstnehmen und nicht als Plattform abtun, auf der nur getanzt wird. Stattdessen sei es ratsam, in Kontakt zu bleiben, nachzufragen, Interesse zu zeigen und die Inhalte nicht direkt zu verteufeln. "Es ist ratsam, sie mit den Jugendlichen zusammen anzuschauen und darüber zu sprechen", sagt Oehlmann.

Über die Gesprächspartnerin

  • Jamuna Oehlmann Koordinatorin der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx) in Berlin und Expertin für Extremismusprävention.

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