Es handelt sich um ein fast vergessenes arabisches Geschichtskapitel, dabei könnten seine Folgen fataler nicht sein: Der Angriff auf die grosse Moschee in Mekka im Jahr 1979 hob den islamistischen Terror aus der Taufe. Um die Massen-Geiselnahme zu beenden, musste die saudische Regierung einen folgenschweren Deal eingehen.
Wissen Sie noch, was Sie an jenem Dienstag im September 2001 gerade machten, als die ersten Bilder des brennenden World Trade Centers durch die Medien gingen? Damals verübten islamistische Terroristen mit Flugzeugen Anschläge in den USA.
Kurz darauf begann der von den USA geführte "Krieg gegen den Terror", auch in der Öffentlichkeit beherrschte der islamistische Terrorismus fortan die Debatte. Für viele ist 9/11 eine Zäsur.
Geburtsstunde des islamistischen Terrors
Aber so einschneidend dieses Ereignis auch war, die Geburtsstunde des islamistischen Terrors war es nicht. Der islamistische Terror fand seinen Anfang deutlich früher - vor 40 Jahren in Mekka.
Schauplatz war die grösste und bedeutendste Moschee der Welt – die al-haram-Moschee im saudi-arabischen Mekka. Sie gehört zu den heiligsten Stätten des Islam.
Es ist der 20. November 1979, nach islamischer Zeitrechnung beginnt an diesem Tag das Jahr 1400. Nach einer Überlieferung des Propheten Mohammed soll an diesem Tag ein Nachkomme von ihm – ein Mahdi – auftauchen und das Unrecht in der Welt beseitigen.
Beim frühen Morgengebet ahnt noch keiner der etwa 100.000 Pilger, was sich in den kommenden Stunden ereignen wird und welche weitreichenden Folgen die Vorgänge haben werden.
500 militante Islamisten aus verschiedenen arabischen Ländern, die sich zuvor mit versteckten Waffen unter die Pilger gemischt haben, stürmen die Moschee: Schüsse fallen, Wachpersonal wird getötet, Ausgänge werden verschlossen und Tausende Pilger als Geiseln genommen.
Startschuss für "Kampf gegen die Ungläubigen"
Anführer ist Dschuhaiman al-Utaibi, ein fundamentalistischer Prediger und ehemaliger Korporal der saudischen Nationalgarde. Dschuhaiman entreisst dem Imam das Mikrofon und verkündet den Pilgern: Der Mahdi sei gekommen, der Kampf gegen die Ungläubigen beginne. Angeblicher Mahdi ist der religiöse Student Muhammad ibn Abdullah al-Kahtani.
Als Anhänger Dschuhaimans teilt er dessen Kritik an den gesellschaftlichen Veränderungen, die Saudi-Arabien in den 60er und 70er Jahren erlebte: Lebensstile wurden zunehmend vom Materialismus geprägt, Musik, Fernsehen, Alkohol und Frauen ohne Hijab fanden Einzug in die islamische Welt.
Radikale Forderungen
Der sunnitische Radikale Dschuhaiman und seine Anhänger sehen darin eine Bedrohung: Die Besetzung der Moschee soll als Staatsstreich dienen, um die Königsdynastie der Saud zu stürzen und einen endzeitlichen Gottesstaat zu errichten.
Vor Tausenden Pilgern verkündet Dschuhaiman seine weiteren Forderungen: Die islamistische Rechtsordnung soll in allen muslimischen Ländern Grundlage sein, diplomatische Beziehungen zu westlichen Ländern sollen abgebrochen, an die USA soll kein Erdöl mehr geliefert werden.
Um die Ankunft des Mahdi und die Forderungen zu verbreiten, lassen die Terroristen einen Grossteil der Geiseln nach und nach frei. Die Moschee aber bleibt besetzt, auf den Minaretten werden Scharfschützen postiert.
Militärpolitisches Dilemma
Schnell versetzt die Nachricht vom Angriff auf die Grosse Moschee in Mekka die islamische Welt in Aufruhr. Weil der iranische Ajatollah Chomeini – im selben Jahr aus dem Exil zurückgekehrt und an die Macht gekommen – die Vermutung äussert, dass US-Amerikaner für die Besetzung verantwortlich seien, folgen Angriffe auf US-Botschaften und anti-amerikanische Proteste etwa in Libyen, Pakistan und Bangladesch.
Der saudische König Chalid lässt die Landesgrenzen schliessen, verhängt eine Informationssperre, umstellt die Moschee und unterbricht die Stromzufuhr. Aber er hat ein Problem:
Ein Militärmanöver zur Befreiung der Geiseln ist nicht möglich. Der Koran verbietet den Waffengebrauch in Moscheen und den Angriff auf die heiligste Stätte.
Hoher Preis für Beendigung der Geiselnahme
Die einzige Möglichkeit, dem Dilemma zu entkommen, ist die Erwirkung einer Fatwa durch die obersten Theologen des Landes. Dabei handelt es sich um ein Rechtsgutachten, welches beurteilt, ob eine Handlung mit dem islamischen Recht vereinbar ist.
Die religiösen Rechtsgelehrten beraten tagelang. Sie selbst stecken im Zwiespalt: Zwar erkennen sie den präsentierten Mahdi in Form von Mohammad ibn Abdullah nicht an, allerdings teilen sie die Kritik am saudischen Königshaus, an der gesellschaftlichen Modernisierung und der Vorherrschaft des Westens. Führende Geistliche aus ihren Reihen haben die wahhabitische Missionsbewegung, der die Terroristen angehören, mitbegründet.
Die Gelehrten fassen deshalb folgenden Entschluss: Sie ermöglichen dem Regime mit einer Fatwa die gewaltsame Lösung des Geiseldramas – doch als Gegenleistung sollen saudische Herrscher die gesellschaftliche Liberalisierung und Modernisierung zurückdrängen. Mit den Öl-Milliarden sollen sie ausserdem den Wahhabismus in der gesamten Welt fördern. Einheimische wahhabitische Fundamentalisten haben fortan freie Hand.
Mehr als 1.000 Tote
Kurzfristig schafft der Deal Abhilfe: Nach mehr als vierzehn Tagen der Besetzung gelingt es den saudischen Sicherheitskräften am 5. Dezember 1979, die Rebellen zur Aufgabe zu zwingen. Behilflich ist ihnen eine Anti-Terroreinheit der französischen Nationalgarde, die Tränengas in den labyrinthischen Kellerräumen der Moschee einsetzt.
Die vorerst traurige Bilanz des Terroraktes: Offiziell 330 Tote, darunter auch der angeblich unsterbliche Mahdi Mohammad ibn Abdullah. Schätzungen gehen jedoch von mehr als 1.000 Toten aus. Im Januar 1980 lässt die saudische Regierung 63 Aufständische enthaupten, dazu zählt Anführer Dschuhaiman.
Scharia wird verschärft
Sein Programm aber lebt fort: Denn um die Rebellen im Dezember 1979 loszuwerden, musste sich das saudische Königshaus seine Ziele zu eigen machen.
Saudi-Arabien verlässt den liberalen Pfad zu einer modernen Gesellschaft und orientiert sich mit einer intensivierten Religionspolitik zurück zu einem islamisch-konservativen Staat. Religiöse Vorschriften der Scharia werden verschärft und strenger kontrolliert. Ebenso gewinnen islamische Prediger und Religionsgelehrte an Einfluss. Heute ist Saudi-Arabien eine der konservativsten Gesellschaften der Welt.
In der restlichen islamischen Welt gilt Dschuhaiman Vielen als Idol. Die al-Qaida-Anführer Osama bin Laden und Abu Musab al-Sarkawi bekannten sich zu seinem Kampf und auch der IS beruft sich auf Dschuhaimans Schriften.
Mit der Besetzung der Grossen Moschee machte sich Dschuhaiman also für die islamistischen Terrororganisationen unsterblich.
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