Italien hat gewählt, doch wie die drittstärkste Volkswirtschaft Europas künftig regiert werden soll, steht noch nicht fest. Warum die Politik in Italien so schwierig ist, wie Berlusconi wieder ein Comeback gelingen konnte und was von der Bewegung von Ex-Komiker Beppe Grillo zu halten ist, erklärt uns Italien-Experte Roman Maruhn im Interview.
Herr Maruhn, wie ist die aktuelle Stimmung in Italien?
Maruhn: Die Wahlen haben den Eindruck der Unregierbarkeit hinterlassen. Leider gibt es nur wenig Kreativität beim Denken, was man aus der Situation machen kann. Die ersten Meinungen in den Medien gehen in alle Richtungen. Der italienische Wähler hat sich klar ausgedrückt und will dem Mitte-Links-Bündnis von Bersani die politische Verantwortung übertragen. Der andere grosse Gewinner ist der Movimento 5 Stelle (deutsch: Bewegung "Fünf Sterne", Anm. der Red.) unter Beppe Grillo, der 25 Prozent der Stimmen geholt hat.
Doch die Stimmenverteilung im Senat ist das wesentliche Problem. Bersani hat hier keine Mehrheit. Berlusconi hat im Vergleich zu früheren Wahlen verloren. Er hat die schwierige Situation aber mitzuverantworten, da das derzeitige Wahlsystem von seiner Regierung beschlossen wurde. Allerdings wurde es auch in dem Jahr unter Monti nicht geschafft, ein neues Wahlgesetz beschliessen. Und Bersanis PD (Partito Democratico) hat von Berlusconis Wahlrecht sogar profitiert, da sie jetzt als stärkste Allianz automatisch 55 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer erhält.
Warum ist Berlusconi so schnell wieder ein Comeback gelungen?
Maruhn: Das liegt wohl vor allem an den finanziellen Versprechungen, die Berlusconi den Wählern gegeben hat. Montis Regierung hat Italien zwar finanziell stabilisiert, aber auch viel Unzufriedenheit herauf beschworen. Die Steuerlast ist in Italien relativ hoch, trotzdem bekommen die Italiener nur wenig Gegenleistung wie Sozialzuwendungen vom Staat. Die Mehrwertsteuer hat sich erhöht, Kindergärten werden teurer und die Reallöhne sinken. In der Wählerverteilung hat Berlusconi vor allem den Süden Italiens für sich gewonnen. Vielen Menschen geht es dort verhältnismässig schlecht. Da spielt Moral keine Rolle mehr. Sie wählen nur noch danach, von wem sie am schnellsten mehr Geld bekommen können. Von Berlusconi wissen sie, dass er solche Versprechungen relativ schnell und bedenkenlos umsetzt. Es gibt viele Leute, die ihn einfach cool finden. Er verkörpert den Kumpel von der Ecke.
Monti ist ein glänzender Redner, aber intellektuell anspruchsvoll. Berlusconi schaut dem Volk aufs Maul. Aber man muss auch bedenken, dass Berlusconi wahrscheinlich gewählt worden wäre, wenn Monti nicht kandidiert hätte. Monti hat sich gegen ihn gestellt und damit seinen möglichen Wahlsieg verhindert. Ich glaube, eine unsichere Regierung ist für Italien besser als noch einmal fünf Jahre Berlusconi.
Wie geht es in Italien weiter?
Maruhn: Die Wähler haben dem PD von Bersani einen klaren Regierungsauftrag erteilt. Ich bezweilfe, dass eine grosse Koalition mit Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnis gut für Italien ist und ob das überhaupt geht. Doch jetzt sind alle Parteien aufgefordert, miteinander zu verhandeln und eine Regierung zu bilden.
Drohen Neuwahlen?
Maruhn: Man wird vermeiden wollen, neu zu wählen. Es gibt keine grosse Hoffnung, dass sich bei einem erneuten Wahlgang die Ergebnisse ändern könnten.
Welche gesellschaftlichen Gruppen wählen in Italien welche Partei?
Maruhn: Hinter der "Fünf Sterne"-Bewegung von Grillo versammelt sich die Generation unter 30, unter 40 Jahren. Es ist die junge aufgeklärte Leistungselite, die das bestehende System ändern und neue Strukturen schaffen will. 25 Prozent sind ein erstaunliches Ergebnis für so eine Wählergruppe. Bersanis PD zieht eine sozialdemokratisch orientierte Gruppe an, eine eher ältere Wählerschaft. Die ehrlichen Christdemokraten, wie ich sie nenne, wählen Monti. Darunter sind auch viele Unternehmer.
Die "falschen" Christdemokraten, also die Menschen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, stimmen für Berlusconi. Bei ihm herrscht das finanzielle Eigeninteresse der Wähler vor, sie lassen sich kaufen. Wie es Italien geht, ist ihnen egal. Es gibt eben auch viele Profiteure in Berlusconis System, in der Region Kampanien um Neapel haben Parteivertreter nachgewiesenermassen Kontakte zur Camorra. Da wird auch sehr viel Klientelismus betrieben. Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Italiener das gewählt haben, was ihnen wichtig ist. Eine rationale Entscheidung oder auch eine mit Herz.
Ist die italienische Gesellschaft in sich gespalten?
Maruhn: Italien ist nicht mit Deutschland vergleichbar. Es ist eine verkrustete Gesellschaft. Viele starke Gruppen wollen ihre vom Staat garantierten Privilegien behalten und wehren sich gegen Reformen. Den Reformgegnern steht eine junge Generation gegenüber, denen es schlechter geht als ihren Eltern. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen ist hoch, viele sind perspektivlos und verlangen eine Lösung aus dieser Situation. Sie versuchen eine Revolution anzuschieben.
Der Grundsatz von "Eine Hand wäscht die andere" ist noch tief in der italienischen Kultur verwurzelt. Im Grunde ist das auch Berlusconis Strategie. Er ist machtbesessen, aber er weiss auch sich und seine Unternehmen durch die politische Einflussnahme vor Strafverfolgung zu schützen. Im Wahlkampf hat er sogar ehrlich gesagt: "Wählt mich, damit die mich nicht ins Gefängnis bringen." Im Gegenzug verspricht er Steuergeschenke.
Hat die "Fünf Sterne"-Bewegung von Beppe Grillo das Zeug, Italien zu verändern?
Maruhn: Das Ergebnis von 25 Prozent zeigt jedenfalls, dass es sich nicht um eine Protestwahl handeln kann. Da ist eine Revolution im Gange, die eine politische Umwälzung bewegen kann. Eine Modernisierung, wie es sie durch die 68er-Generation in Deutschland angetrieben wurde, gab es in Italien zwar auch, aber sie war nur sehr oberflächlich. In den letzten zwanzig Jahren ist gesellschaftspolitisch überhaupt nichts passiert. Es sind zwei verlorene Jahrzehnte, in denen es keine soziale oder ökonomische Entwicklung gab. Im Prinzip ist Italien ein muffiges Land, dem es wirtschaftlich dreckig geht. Die junge idealistische Bewegung von Grillo hat die Hoffnung geweckt, etwas zu verändern. Vielleicht werden sie den gleichen Prozess wie die Grünen in Deutschland durchmachen. Die Gruppe ist sehr internationalisiert. Auslandsitaliener engagieren sich dafür, auch in Deutschland.
Droht durch die Anti-Europäer im Senat Italiens Austritt aus dem Euro?
Maruhn: Wenn die "Fünf Sterne"-Bewegung oder Berlusconis Mitte-rechts-Bündnis eine Koalition mit Bersani eingeht, haben sie kaum Möglichkeiten, diesen Punkt durchzusetzen. Den Parteien sind innenpolitische Ziele wichtiger als Europa. Die Drohung mit einem Euro-Austritt war wohl vor allem eine Möglichkeit, im Wahlkampf Stimmung zu machen.
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