Jacqueline Jencquel will im Januar 2020 sterben: Im Alter von rund 75 Jahren, bei guter Gesundheit – und mit Unterstützung der Schweizer Organisation Lifecircle. Die Französin hat mit ihrem öffentlich geäusserten Wunsch die Debatte um Sterbehilfe erneut angefacht. Ethiker Alberto Bondolfi befürwortet eine stärkere Kontrolle der Finanzierung von Sterbehilfeorganisationen.

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"Alter ist eine unheilbare Krankheit, die in jedem Fall tödlich ist." So betrachtet Jacqueline Jencquel das Altern und weigert sich, allfällige damit verbundene Qualen zu aktzeptieren.

Mit 74 Jahren fliegt die Französin noch immer Gleitschirm, hat einen 30 Jahre jüngeren Partner und führt ein reges Leben in Paris. Und sie leidet weder an einer unheilbaren, noch an einer degenerativen Krankheit.

Doch auch für sie wird alles einmal ein Ende haben. Statt zu erleben, wie ihr Stern langsam erlöscht, hat sie einen exakt programmierten Abgang von der Lebensbühne entworfen: Sie will im Januar 2020 in der Nähe von Gstaad (Kanton Bern) aus dem Leben scheiden, mit Unterstützung der Basler Sterbehilfeorganisation Lifecircle. Einer ihrer Söhne, ein Dokumentarfilmer, wird das Ganze mit seiner Kamera festhalten.

Weil Sterbehilfe in Frankreich verboten ist, will Jacqueline Jencquel zum Sterben in die Schweiz kommen. Provokant, und manchmal vulgär, vermittelt sie über die Medien ihr Vorhaben, das sie als militanten Akt verstanden haben will.

"Ich habe keine Lust, mit einem Kerl zu schlafen, der einen riesigen Bauch und grössere Brüste als ich hat", sagt sie in einem Interview mit der französischen Website Konbini.

Sie kämpft für den "freiwilligen Unterbruch des Alterns", wie sie sagt, für das Recht, dann zu sterben, wenn man sich dafür entscheide. Egal, ob man nun krank sei oder nicht.

Video: Jacqueline Jencquel im Interview mit Konbini (französisch):

Der Fall der Französin kann schockierend wirken. Wie weit darf die Freiheit gehen, über das Ende des eigenen Lebens zu entscheiden? Punkto Sterbehilfe kennt die Schweiz weltweit eine der liberalsten Gesetzgebungen. Der Ethiker Alberto Bondolfi fordert aber klarere Rahmenbedingungen für diesen Bereich.

swissinfo.ch: Seit sie in den Medien über ihren Willen spricht, ihrem Leben mit assistiertem Suizid ein Ende zu setzen, sieht sich Jacqueline Jencquel einer Flut von Reaktionen ausgesetzt, wobei viele ihrem Entscheid kritisch gegenüberstehen. Wieso?

Alberto Bondolfi: In der Schweiz besteht die Tendenz zur Haltung, dass Beihilfe zum Suizid nur angebracht ist, wenn die Person, die sich darum bemüht, am Ende des Lebens steht. Exit, die wichtigste Sterbehilfeorganisation in der Schweiz, hat dies als Anforderung festlegt – meiner Ansicht nach zu Recht.

In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck, dieses Kriterium sei eine rechtliche Vorgabe, was aber nicht der Fall ist. In Realität enthält das Gesetz nur zwei Bedingungen: Die Person muss erstens urteilsfähig sein, um ihre Einstimmung geben zu können, und wer zweitens Beihilfe zum Suizid anbietet, darf davon nicht finanziell profitieren.

swissinfo.ch: Warum sind die Sterbehilfeorganisationen über das Gesetz hinausgegangen und haben strengere Kriterien aufgestellt?

Alberto Bondolfi: Das hängt zusammen mit der Geschichte der Gesetzesbestimmung, welche die Beihilfe zum Suizid regelt. Der Artikel 115 des Strafgesetzbuches wurde in den 1930er-Jahren formuliert.

Das Ziel war damals, Formen von Suizid zu reglementieren, die nicht mehr einfach mit denen von heute übereinstimmen: Es ging zum Beispiel um Suizide aus Ehrengründen, die nach romantischen Enttäuschungen oder nach wirtschaftlichen Pleiten begangen wurden.

20 Jahre wurde über die Notwendigkeit für eine bessere Formulierung dieses Gesetzes debattiert. Doch nachdem die Regierung verschiedene mehr oder weniger strenge neue Varianten vorgeschlagen hatte, kam sie letztlich zum Schluss, dass nichts getan werden sollte – die zwei Zeilen also unverändert im Strafgesetzbuch belassen werden sollten.

Heute scheint die Öffentlichkeit jedoch den Wunsch zu haben, dass der Staat strengere Regeln erlassen sollte.

swissinfo.ch: Sterbehilfe für eine relativ gesund Person wie Jacqueline Jencquel ist also heute völlig legal. Aber wie sieht das aus ethischer Sicht aus?

Alberto Bondolfi: Es gibt eine Debatte unter jenen Ethikern, die für Freiheit eintreten und jenen, die eine eher prohibitive Linie vertreten. Ich persönlich glaube, dass jeder Suizid ein Entscheid ist, der über das Gute und das Böse hinausgeht, ein Entscheid, den wir nicht beurteilen können. Das Urteil kommt der Person zu, die sich das Leben nimmt.

Schweigen ist eine moralisch akzeptable Reaktion, wenn jemand zur Tat schreitet. Man bedauert den Tod dieser Person, wie man den Tod jedes Menschen bedauert, indem man auf moralische Überlegungen verzichtet. Man muss eine gewisse Empathie für Menschen haben, die eine solch destruktive Handlung begehen und darf kein Urteil fällen.

Indem der Staat darauf verzichtet, jene zu bestrafen, die Dritten dabei helfen, aus dem Leben zu scheiden, verzichtet er darauf, ein definitives Urteil zu fällen, wenn es um suizidale Handlungen geht. Der Staat hat eine Pflicht, die Menschen zu schützen. Diese geht aber nicht so weit, jemanden dazu zu zwingen, gegen seinen Willen am Leben zu bleiben.

swissinfo.ch: Besteht nicht die Gefahr, eine Gesellschaft zu schaffen, die das Altern nicht mehr toleriert?

Alberto Bondolfi: Dieses Risiko besteht. Dies kann man in den Kommentaren sehen, welche die Geschichte von Jacqueline Jencquel auslöst. Dieser Tendenz kann jedoch nicht durch Polizeimassnahmen begegnet werden.

Dazu braucht es eine öffentliche Debatte über die Sterbehilfe. Es sollte für die in diesem Bereich tätigen Vereine mehr Rahmenbedingungen geben, vor allem aus juristischen Gründen.

Der Staat sollte Kontrollmassnahmen ergreifen, insbesondere mit Blick auf die finanziellen Hintergründe dieser Organisationen. Wie verwenden sie ihr Geld? Geht es wirklich um altruistisches Handeln oder machen sie in direkter oder indirekter Weise Profit?

Exit ist in der Form eines Vereins auf sehr schweizerische Art und Weise organisiert und hat die Gefahr von Ausrutschern erheblich begrenzt. Neuere Gruppierungen, die im Lauf der letzten Jahre entstanden sind, sind relativ klein und haben weniger transparente Kommunikationsstrategien.

swissinfo.ch: "Ich will mich nicht alt fühlen, will nicht stinken, nicht lästig sein, will nicht nur noch Mitleid erregen statt Leidenschaft." Diese Aussagen von Jacqueline Jencquel in der Westschweizer Zeitung Le Temps provozieren. Sind sie auch aufschlussreich für das Bild, das sich unsere Gesellschaft vom Alter macht?

Alberto Bondolfi: Ich habe eher den Eindruck, dass es sich um eine Karikatur handelt. Wir sind alle von unseren Erfahrungen beeinflusst. Ich bin selber 72 Jahre alt und ich fühle deutlich, dass ich älter werde. Ich stelle fest, dass ich nicht mehr so leistungsfähig bin wie früher.

Aber ich schäme mich nicht für meinen Körper und auch nicht dafür, dass meine Leistungen nicht mehr dieselben sind wie vor zehn Jahren. Jeder versucht, so gut wie möglich zu leben.

Und die Gesellschaft versucht, Massnahmen zu ergreifen, damit wir nicht so weit kommen, uns für uns selbst zu schämen. Doch wenn diese Dame dieses Gefühl hat, gibt es kein Rezept, sie davon abzuhalten.

swissinfo.ch: Ist zu befürchten, dass die Medienberichte über diesen Fall einen Nachahmereffekte hervorrufen?

Alberto Bondolfi: Es kann einen Anreizeffekt haben, vor allem für Menschen, die psychisch fragil sind. Es ist bekannt, dass Jugendliche besonders anfällig sind. Der Staat muss dies in Betracht ziehen und diese Bevölkerungsgruppe besonders schützen.

Die Geschichte von Jacqueline Jencquel ist allerdings schwer nachzuahmen. Sie selbst sagte, dass der Suizid sie 10'000 Franken kosten wird. Ich habe den Eindruck, dass sie eine wohlhabende Person ist, mit entsprechendem Lebensstil.

Für einen durchschnittlichen Menschen in der Schweiz ist es schwierig, sich mit diesem Fall zu identifizieren. Das Phänomen bleibt für den Moment aristokratisch und betrifft noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung.


(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)  © swissinfo.ch

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