Brasiliens designierter Präsident spaltet das Land: Die einen sehen in Jair Bolsonaro den Mann, der endlich aufräumen will mit der Korruption, die anderen sehen die Demokratie in Gefahr. Nun ist eine Schwarze Liste mit Bolsonaro-Kritikern aufgetaucht: 700 Künstler sind ins Visier der "Bolsonaristas" geraten.

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Noch ist Jair Bolsonaro gar nicht im Amt: Erst am 1. Januar 2019 wird er vereidigt. Trotzdem wirft die erste Amtszeit des neuen brasilianischen Präsidenten ihre Schatten voraus.

Gerade erst hat Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi den viertägigen Besuch des brasilianischen Aussenministers Aloysio Nunes Ferreira abgesagt, obwohl sich dessen Delegation bereits im Land befand. Eine Reaktion auf Bolsonaros politische Ankündigungen - obwohl Nunes Ferreira der aktuellen Regierung von Michel Temer angehört.

Am Dienstag hatte sich Bolsonaro in seiner ersten Rede vor dem Kongress in Brasilia zur brasilianischen Verfassung bekannt. "In der Demokratie gibt es nur einen Fixpunkt und das ist die Verfassung", sagte der Rechtspopulist - wohl in einem Versuch, jene zu besänftigen, die die noch so junge Demokratie des Landes in Gefahr sehen.

Denn so mancher Kommentator geht hart mit dem nächsten Präsidenten ins Gericht: "Bolsonaro könnte Donald Trump sein, gleicht aber eher Rodrigo Duterte, einem anderen exzentrischen und aggressiven Machthaber", urteilt etwa der bekannte Journalist und Schriftsteller Elio Gaspari in seiner aktuellen Kolumne für "O Globo".

Schwarze Liste mit 700 Namen aufgetaucht

Bolsonaros aggressive Rhetorik zeigt Wirkung: Die Stimmung im Land ist seit Wochen aufgeheizt. Die Anhänger des rechtsextremen Politikers richten ihre Wut nun auch gegen Künstler und Intellektuelle: Mehrere Medien berichten von einer Schwarzen Liste, die über WhatsApp die Runde macht, und veröffentlichten Screenshots.

Rund 700 Namen stehen demnach auf der Liste mit angeblichen Kommunisten, darunter zahlreiche namhafte Künstler, Musiker, Schauspieler und Journalisten. Wie die grösste Tageszeitung des Landes, die "Folha de S. Paulo", berichtet, gab es Boykottaufrufe: "Bolsonaristas" sollten keine Musik der Aufgelisteten anhören, keine ihrer Bücher lesen oder ihrer Filme ansehen.

Unter den 700 Namen befinden sich einige der bekanntesten Gesichter des brasilianischen Kulturbetriebs, etwa der Musiker und Ex-Kulturminister Gilberto Gil, Schauspieler Wagner Moura ("Narcos"), Sängerin Beth Carvalho oder Publizist Jô Soares.

Bei einigen - vornehmlich Frauen - wird zusätzlich dazu aufgerufen, ihre Musikvideos auf YouTube schlechtzumachen. "Es wird Zeit, dass Fernanda Abreu die Macht unserer 'Dislikes' und 'Meldungen unangemessener Inhalte' zu spüren bekommt", zitiert die "Folha" den Verfasser einer Nachricht in einer der WhatsApp-Gruppen, die die Liste verbreiteten.

Offener Brief gegen Bolsonaro

Anders als bei den Kongresswahlen in den USA hatte in Brasilien unter Künstlern lange Schweigen geherrscht: Kaum jemand mobilisierte seine Fans, für Bolsonaro oder dessen Kontrahenten Fernando Haddad zu stimmen - aus Angst vor Repressalien, mutmasste die "Folha de S. Paulo".

Erst Ende September, zwei Wochen vor dem ersten Wahlgang, meldeten sich mehrere Kunstschaffende in einem offenen Brief zu Wort.

"Wir sind verschieden. Wir gehen unterschiedliche Wege. Wir wählen verschiedene Personen und Parteien. Verteidigen unterschiedliche Werte, Ideen und Projekte für unser Land, die sich häufig widersprechen", heisst es in dem Manifest mit dem Titel "Democracia Sim". Das sei gelebte Demokratie.

Wer jedoch die autoritäre Vergangenheit Brasiliens negiere, mit einer neuen Verfassung liebäugle und sich fremdenfeindlich und diskriminierend äussere, stelle sich gegen die Demokratie. Des Weiteren kritisieren die Verfasser konkrete Aussagen Bolsonaros aus dem Wahlkampf, etwa dass in der Zeit der Militärdiktatur (1964 bis 1985) zu wenige Menschen getötet worden seien.

Zu den Unterzeichnern gehören etwa die Musiker-Grössen Caetano Veloso und Chico Buarque, die Schauspielerinnen Dira Paes und Camila Pitanga sowie die Regisseure Walter Salles ("Die Reise des jungen Che", "On the Road") und Fernando Meirelles ("City of God", "Der ewige Gärtner"). Rund 190.000 Unterschriften kamen insgesamt zusammen.

Sorge um Demokratie in Brasilien

Im ganzen Land häuften sich in den vergangenen Wochen politisch motivierte Übergriffe - auf Journalisten, Aktivisten, Homosexuelle. Am 7. Oktober, dem Tag des ersten Wahlgangs, wurde der Capoeira-Meister Moa do Katendê mit zwölf Messerstichen getötet, nachdem er in einem Streit mit einem Bolsonaro-Anhänger seine Unterstützung für Fernando Haddad bekundet hatte.

Nach Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten waren viele davon ausgegangen, seine aggressive Wahlkampfrhetorik sei genau das gewesen: nur Rhetorik. Er belehrte sie eines Besseren. Bolsonaro agierte im Wahlkampf sogar noch um einiges schärfer. Ab dem kommenden Jahr wird sich zeigen, ob der "Trump Brasiliens" Ernst macht. Dann müssten sich wohl auch einige Künstler und Intellektuelle in Acht nehmen.

Verwendete Quellen:

  • Folha de S. Paulo: Grupos em redes sociais pedem boicote a artistas que se opuseram a Bolsonaro
  • Folha de S. Paulo: Só 6 dos 20 artistas mais populares do Brasil declaram preferência na eleição
  • Folha de S. Paulo: Eleições 2018: Só 1% dos projetos de deputados que tentam reeleição em 2018 viraram lei
  • O Globo: Bolsonaro precisa desacelerar
  • O Globo: Constituição no país de Bolsonaro
  • Nocaute: Bolsonaristas soltam primeira lista negra com mais de 700 inimigos
  • Ponte.org: Mestre de capoeira Moa do Katendê é morto por eleitor de Bolsonaro na BA
  • Cidade Botucatu: Grupo faz ‘lista negra’ de apoiadores de Bolsonaro
  • Zeit Online: Spitzenkandidaten verurteilen Gewalt ihrer Anhänger
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