Jean-Claude Juncker, voraussichtlich künftiger Kommissionspräsident, wird einer der wichtigsten EU-Verhandlungspartner für die Schweiz - und das nicht nur in Sachen Freizügigkeit.
Aus den Europawahlen ist die konservative Europäische Volkspartei (EVP) als stärkste Kraft hervorgegangen. Für die Schweiz ein Randthema? Mitnichten: Jean-Claude Juncker ist derzeit der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten - und damit künftig einer der wichtigsten Partner für die Schweiz. Aber was ist von ihm zu erwarten?
Mit Verbündeten aus den Reihen der EU-Skeptiker kann die Schweiz wohl kaum rechnen: Zwar haben sie bei den Wahlen stark zugelegt, "die EU-Politik wird auch in Zukunft von den EU-freundlichen Parteien gemacht", prophezeit Europa-Experte Dieter Freiburghaus, emeritierter Professor der Universität Lausanne, im Interview mit dem "Tagesanzeiger". "Sie behalten ihre Mehrheit im Parlament. Und sie stehen den Sonderwünschen der Schweiz skeptisch gegenüber." Die Rechtspopulisten seien sehr unterschiedlich ausgerichtet - "Sie werden Mühe haben, Fraktionen zu bilden."
Keine Kompromisse bei Freizügigkeit
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Selbst wenn Juncker sich als "Freund und Anwalt der Schweiz in der EU" bezeichnet, bedeutet dies nicht, dass er den schweizerischen Anliegen immer wohlgesinnt sein wird. Der "bilaterale Weg" und die Stellung der Schweiz in Europa - ausserhalb der EU - sind für den Luxemburger nicht der optimale Zustand. Schon vor Jahren hatte er auf einen Beitritt gedrängt.
FDP-Nationalrätin Christa Markwalder, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission, erhofft sich von Juncker dennoch Verständnis für die Situation der Schweiz. "Herr Juncker kommt aus Luxemburg, einem kleinen, mehrsprachigen und prosperierenden Staat, mit dem wir immer eine gute Kooperation pflegten." Auch CVP-Politiker Gerhard Pfister würde Junckers Wahl begrüssen - schliesslich verfügt Luxemburg über einen vergleichbar starken Finanzplatz wie die Schweiz.
Wirtschaftliche Interessen versus Neutralität
Im Umgang mit der Ukraine-Krise könnten sich Konflikte ergeben. Der potenzielle zukünftige EU-Kommissionspräsident hat sich hier klar positioniert: Sollte Russland sich nicht um eine Entspannung der Lage bemühen, treten vonseiten Europas weitere Wirtschaftssanktionen in Kraft. Speziell Finanzströme von und nach Russland will Juncker verschärft ins Visier nehmen. Zwar hat auch die Schweiz schon Massnahmen gegen Russland ergriffen - hier kollidieren allerdings wirtschaftliche Interessen mit der Neutralität.
Arbeitsmarktpolitisch betrachtet könnte man beim Thema Jugendarbeitslosigkeit konform gehen, deren Senkung auch ein erklärtes Ziel des Luxemburgers ist. Allerdings hat die Schweizer Bevölkerung Mitte Mai einen gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde mit 76,3 Prozent der Stimmen abgelehnt. Angemessene Bezahlung ist für Jean-Claude Juncker christlich-soziale Grundüberzeugung. 20 der 28 EU-Mitgliedsstaaten haben sich bisher für Mindestlöhne entschieden, Juncker fordert dies für alle EU-Staaten. Steht die Schweiz dann also mit ihrer ablehnenden Haltung im Abseits?
Abzuwarten bleibt, was es mit der von Juncker geplanten "Europäisierung" von Datenschutz und Urheberrecht auf sich hat. Auf einem EU-Gipfel in Brüssel hatte er sich im Oktober 2013 für "minimale Umgangsformen" ausgesprochen, auf die man sich mit den Amerikanern einigen müsse. Zwar hat die Schweiz in der Vergangenheit viele EU-Regeln analog übernommen, gerade die Datenschutz- und Urheberrechtsbestimmungen sind hierzulande aber weniger streng. Ob Junckers Position eine Initiative von Schweizer Künstlern rund um DJ Bobo, die sich für strengere Bestimmungen stark machen, unterstützen kann, wird sich zeigen.
Schwierige Ausgangsposition für die Schweiz
Seine Prioritäten als Kommissionspräsident hat Jean-Claude Juncker jedenfalls formuliert: Wachstum, Beschäftigung, digitaler Binnenmarkt und die Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion, eine europäische Energieunion, ein ausgewogenes Handelsabkommen mit den USA und die Antwort auf die britische Frage: Wie viel darf Brüssel London vorschreiben?
Wo die Anknüpfungspunkte für die Schweiz liegen, muss sich weisen. Aktuell sind wir mit der EU in einem rund 120 Abkommen starken Netzwerk verflochten, dessen Basis 1972 mit dem Freihandelsabkommen gelegt wurde. Über neue Abkommen - etwa eine Teilnahme am Binnenmarkt für Elektrizität oder die Revision des Zinsbesteuerungsabkommens - wurde schon gesprochen, zumindest das geplante Energieabkommen ist aber vorläufig auf Eis gelegt. Der Schweiz stehen wohl schwierige Verhandlungen bevor.
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