Deutschland trifft im Olympia-Viertelfinale auf das kanadische Team. Eigentlich schon aus sportlicher Sicht ein bemerkenswertes Duell. Doch der Drohnen-Skandal schwebt buchstäblich über der Partie. Jetzt kommen immer mehr Details ans Licht – dem kanadischen Fussball droht ein gigantischer Skandal.

Annika Becker
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Annika Becker dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Kanada hat alle seine drei Gruppenspiele gewonnen und stünde ohne Sanktion nach dem Drohnen-Skandal normalerweise mit neun Punkten auf dem ersten Platz der Gruppe. Deutschland wäre dann auf die französischen Gastgeberinnen getroffen, die nur zwei Siege einfahren konnten und immer wieder Leistungsschwankungen zeigen.

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Durch den Sechs-Punkte-Abzug aber steht Kanada mit drei Punkten auf dem zweiten Platz der Gruppe A. Es steht also die Frage im Raum, ob die Gegnerinnen nicht ungewollt mit bestraft werden.

Was genau ist passiert?

Bekannt wurde die Drohnen-Spionage Kanadas noch bevor das erste Fussballspiel der Frauen bei den Olympischen Spielen 2024 angepfiffen worden war. Am 22. Juli fiel Personen aus dem Staff der Neuseeländerinnen – Kanadas ersten Gegnerinnen beim Turnier – eine Drohne über dem Trainingsplatz auf. Sie riefen die Polizei, welche den kanadischen Analysten Joseph Lombardi als Betreiber der Drohne ermittelte.

In erster Instanz entschuldigten sich der kanadische Fussballverband (Canadian Soccer Association, CSA) sowie das kanadische olympische Komitee (Canadian Olympic Committee, COC), Lombardi und seine direkte Vorgesetzte, die Assistenztrainerin Jasmine Mander, wurden vom COC offiziell aus dem kanadischen Team entfernt.

Die CSA kündigte an, eine unabhängige Untersuchung in Auftrag zu geben sowie ein "verbindliches Ethiktraining" für den gesamten Staff abzuhalten. Cheftrainerin Bev Priestman zog sich freiwillig und, wie sie im Interview bei CBC sagte, "aus Gründen der sportlichen Integrität" für die erste Partie gegen Neuseeland zurück. Sie behauptete auf Nachfrage der kanadischen Presse zunächst, von all dem nichts gewusst und die Spionage nicht angeordnet zu haben. Das stellte sich im weiteren Verlauf als Lüge heraus.

Suspendierung und Sechs-Punkte-Abzug

Ausserdem ermittelte die Disziplinarkommission der Fifa. Währenddessen machte Kevin Blue, Generalsekretär des kanadischen Fussballverbandes, öffentlich, dass nach ersten Untersuchungen alles darauf hindeute, dass es sich nicht um einen Einzelfall handle. Es gäbe Hinweise darauf, dass es seit Jahren Spionage sowohl beim Männer- als auch Frauen-Nationalteam gegeben habe. Das COC schickte in Rücksprache mit der CSA Bev Priestman nach Hause.

Die Fifa-Disziplinarkommission entschied sich nach ihrer Ermittlung dafür, Priestman, Mander und Lombardi jeweils für ein Jahr von allen Fussballaktivitäten zu suspendieren, den kanadischen Fussballverband mit einer Strafzahlung von 200.000 Schweizer Franken zu belegen und dem kanadischen Team in der Gruppenphase der Olympischen Spiele sechs Punkte abzuziehen. Das COC akzeptierte die ersten beiden Punkte, legte aber Einspruch gegen den Sechs-Punkte-Abzug ein. Doch dieser wurde vom obersten Sportgericht CAS abgelehnt.

Belastende E-Mails – Kanada droht ein riesiger Skandal

Das lag nicht zuletzt an den E-Mails [PDF], die bereits zur Suspendierung von Priestman durch ihren eigenen Verband geführt hatten und von diesem der Fifa-Disziplinarkommission vorgelegt wurden.

In diesen beschreibt ein Analyst (der Name ist geschwärzt) in einer Nachricht an Priestman vom März 2024, in Zukunft nicht mehr "spionieren" zu wollen: "Wie gestern zum Thema 'Spionieren' besprochen, habe ich das Gespräch mit der Gewissheit verlassen, dass Sie meine Gründe verstanden haben, warum ich nicht bereit bin, dies in Zukunft zu tun. […] Ich werde eine Diskussion mit Joey [Lombardi] führen und mich mit dem gesamten Tech-Team in Verbindung setzen, um zu überlegen, wie wir andere Lösungen finden können. Ich wollte aber bestätigen, dass Sie mich ich in den kommenden und zukünftigen Camps nicht bitten werden, die Rolle des 'Spions' zu übernehmen."

Anstatt das zum Anlass für ein Überdenken dieser Praxis zu nehmen, wandte sich Priestman an eine Personalberatung, die laut TSN als externe Firma für die CSA arbeitet: "Ich bitte Sie um Ihren Rat und Input zu dieser offiziellen E-Mail über Spionage. Das ist etwas, was der Analytiker schon immer getan hat, und ich weiss, dass es auf der Männerseite eine ganze Operation in dieser Hinsicht gibt."

Spionage geht offenbar lange zurück

Alle Top-10-Teams würden das laut Priestman machen. Es ist erstaunlich, wie offen beide in Arbeitsmails das Wort Spionage verwenden. Der kanadische Verband äusserte in einem Dokument an die Fifa die Vermutung, dass alles mit der Amtszeit von John Herdman begann, der von 2011 bis 2018 Cheftrainer des kanadischen Nationalteams der Frauen war. Priestman war ab 2013 seine Assistentin, bevor sie seine Nachfolgerin wurde, weil Herdman das Team der Männer übernahm.

So oder so ist der Schaden für das kanadische Team riesig. Aktuelle wie ehemalige Spielerinnen beteuerten in den vergangenen Tagen, niemals Drohnen-Videos von gegnerischen Trainings gesehen oder auch nur davon gehört zu haben. Das kann durchaus sein. Was aber kaum zu überprüfen sein wird, ist, inwieweit das Team unwissentlich von den Erkenntnissen aus solchen Videos profitiert hat, weil ihnen Informationen aus den Videos weitergegeben wurden. Der Goldmedaillen-Erfolg von Tokio wird plötzlich öffentlich angezweifelt und Ereignisse aus den Partien genauestens unter die Lupe genommen.

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Es muss ein sehr schlechtes Gefühl sein, wenn alles, was man sportlich erreicht hat, durch die unfairen Handlungen des eigenen Trainer*innenteams plötzlich so infrage gestellt wird und alles im Schatten einer Unsportlichkeit steht, an der man wissentlich nicht beteiligt war. Das kanadische Team scheint dadurch im Hier und Jetzt näher zusammengerückt und extra motiviert zu sein, das eigene Können unter Beweis zu stellen. Das ist den bisherigen sehr leidenschaftlichen Auftritten bei Paris 2024 abzulesen. Aus Sicht des kanadischen Teams ist es eine grosse Leistung, sich für das Viertelfinale qualifiziert zu haben.

Bestrafung sorgt für Wettbewerbsverzerrung

Während manche – wie die beiden kanadischen Verbände – argumentieren, dass der Sechs-Punkte-Abzug als Strafe ungeeignet ist, weil davon Spielerinnen getroffen werden, die diese Situation mutmasslich nicht herbeigeführt haben, lässt sich das Ganze aber auch von der anderen Seite betrachten. Denn die Strafe hat wie eingangs beschrieben die kuriose Folge, dass nach rein sportlichen Wettbewerbskriterien nun dem deutschen Nationalteam ein Nachteil entsteht.

Der olympische Turnierbaum ist festgelegt und in seiner Anordnung dadurch, dass die zwei besten Gruppendritten weiterkommen, sowieso schon nicht richtig ausbalanciert. Zwei Gruppenerste spielen gegen die beiden besten Gruppendritten, ein erstplatziertes Team gegen ein zweitplatziertes und übrig bleiben eben die beiden zweiten Plätze der Gruppen A und B.

Man muss also auf der einen Seite über die unsportlichen Spionage-Vorgänge sprechen und darüber, wie weit verbreitet das als Praxis tatsächlich ist. Auf der anderen Seite stehen beim Thema Fairness aber auch gerade die Institutionen im Fokus, die diese eigentlich aufrechterhalten sollen – und die eine Situation geschaffen haben, die man auch als Wettbewerbsverzerrung bezeichnen könnte.

Verwendete Quellen

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