- SPD-Politiker und Mediziner Karl Lauterbach lag mit vielen seiner Warnungen oder Prognosen zur Corona-Pandemie richtig.
- Seine Einschätzung zur Durchführbarkeit von Geisterspielen im Profifussball bereut er.
- Er hofft auf einen Erfolg des aktuellen Lockdowns, um die gefährlichen Mutationen in den Griff zu bekommen.
Herr
Karl Lauterbach: Nein, die meisten Warnungen, die ich ausgesprochen habe, sind leider mehr oder weniger zutreffend gewesen. Zum Beispiel habe ich schon im August 2020 darauf hingewiesen, dass wir zu wenig Impfstoff in der ersten Jahreshälfte zur Verfügung haben werden, weil wir uns damals eine geringere Kapazität gesichert hatten als andere Länder, insbesondere die USA. Meistens habe ich diese Warnungen auch nicht alleine ausgesprochen, sondern ich arbeite mit einem Netzwerk von Wissenschaftlern zusammen, in Deutschland, aber auch international. Normalerweise stimme ich mich sehr eng ab mit den Kollegen.
Sind Sie im Ton nicht zu alarmistisch?
Meine Arbeit besteht im Wesentlichen darin, dass ich ständig mit Politikern, aber auch renommierten Wissenschaftlern in Kontakt bin und sehr viele Studien lese. Mit einigen Ministerpräsidenten, der Fraktion und dem Kanzleramt tausche ich mich recht regelmässig aus. Daher denke ich, dass meine Warnungen im Grossen und Ganzen in angemessenem Ton gehalten waren. Und ich versuche auch immer, einen Vorschlag zu bringen, wie man es jetzt machen könnte.
Gibt es auch Sachen, wo Sie rückblickend sagen: "Da habe ich voll danebengelegen mit meiner Einschätzung"?
Ja, zum Beispiel bei den Geisterspielen im Profifussball. Ich habe der Bundesliga nie zugetraut, dass diese Hygienekonzepte sauber umgesetzt werden und habe mit Fan-Ansammlungen vor den Stadien gerechnet. Da lag ich völlig falsch. Damals hatte ich auch einen Streit mit Rudi Völler – er hatte Recht, ich hatte Unrecht.
Wie gehen Sie persönlich mit den ganzen Anfeindungen gegen Ihre Person um?
Sie beängstigen mich wesentlich weniger als die Pandemie selbst. Ich würde mir wünschen, dass es das nicht gäbe und natürlich ist das nicht angenehm, aber ich bekomme auch sehr viel Zuspruch. Überrascht hat mich, wie viele Menschen es gibt, die gewaltbereit sind oder zu Gewalt aufrufen. Das ist schon bestürzend zu erleben, aber ich mache mir mehr Sorgen wegen der Pandemie als wegen dieser Leute.
Karl Lauterbach: "Der Sommer wird gut, wenn wir vernünftig sind"
Sie haben zu Beginn des Jahres die frohe Botschaft verkündet, wir könnten uns auf einen super Sommer freuen – stehen Sie nach wie vor dazu?
Ich glaube nach wie vor, dass es einen super Sommer geben kann. Weil es nun aber drei gefährliche Mutationsvarianten gibt, hängt es sehr davon ab, ob es uns durch den aktuellen Lockdown und durch die Aufklärung der Bevölkerung gelingt zu verhindern, dass die Menschen leichtsinnig werden. Sonst entsteht quasi eine neue Pandemie. Es kann daher auch ein ganz anderes Szenario geben, wovor Christian Drosten warnt und das ich auch für möglich halte.
Wie sieht dieses Szenario aus?
Dass die Bevölkerung, obwohl zunächst nur die Risikogruppen geimpft werden können, in Erwartung der Impfung unvorsichtiger wird und sich die neuen Mutationen verbreiten. Diese haben gegenüber der bisherigen Variante den Nachteil, dass sie sich auch im Sommer sehr rasant ausbreiten würden. Aber es gibt nach wie vor gute Chancen, dass wir einen sehr guten Sommer erleben werden. Es ist aber mehr denn je von der Vernunft der Menschen und einer vernünftigen Politik in den nächsten Monaten abhängig.
Wenn Sie aktuell Kinder im Kita- oder Grundschulalter hätten – würden Sie sie in die entsprechende Einrichtung schicken?
Nein. Die Einrichtungen sind ja geschlossen, denn wir befinden uns in einem verschärften Lockdown. Das ist auch gut so, denn der Lockdown kann nur wirken, wenn wir weiterhin für ein paar Wochen die Kitas und Grundschulen geschlossen halten. Sonst ist einfach die Gefahr sehr gross, dass wir die Kontrolle über die Pandemie noch einmal komplett verlieren, wenn sich die Mutationen verbreiten.
"Schul- und Kitaöffnung wäre ein komplett unwägbares Risiko"
Sie können den Eltern also keine Hoffnung machen?
Man muss das in dieser Härte und Klarheit sagen: Wenn wir jetzt die Kitas und Schulen öffnen, gehen wir ein komplett unwägbares Risiko ein, für die gesamte Gesellschaft, aber auch für die Kinder. Dann müssten wir irgendwann – wie Spanien jetzt – in einen demoralisierenden dritten Lockdown.
Baden-Württembergs Ministerpräsident
Ich kritisiere niemanden und vergebe auch keine Schulnoten. Wie gesagt: Eine jetzige Öffnung wäre falsch. Wir haben den Reproduktionswert von kleiner als 0,7 immer noch nicht erreicht. Die gute Nachricht ist, dass wir die Inzidenz unter 100 drücken konnten. Aber das reicht noch nicht. Wenn wir den R-Wert stabil unter 0,7 halten, dann schrumpft die Zahl der Infektionen mit dem "alten" Coronavirus – und die mit den neuen Mutationen kann nicht wachsen. Beim jetzigen R-Wert von 0,8 haben wir die Situation, dass die alte Variante zwar schrumpft und damit die Zahl der Neuinfektionen sinkt, aber gleichzeitig breiten sich die gefährlichen Mutationen aus. Genau das muss verhindert werden.
In England wurde eine Studie zur Mutation B 1.1.7 gemacht, um herauszufinden, ob Schüler die Eltern anstecken oder umgekehrt. Was kam dabei heraus?
Das Ergebnis war, dass das Kind häufiger die Eltern angesteckt hat als andersherum. Die Untersuchung bezog sich auf einen Zeitraum, in dem zwar die Geschäfte geschlossen, Schulen und Betriebe aber geöffnet waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Menschen in der Arbeitsstätte oder privat infizieren, war in dieser Studie zumindest niedriger als das Risiko für Kinder, sich in der Schule oder im Umfeld der Schule zu infizieren.
Wie misst man eigentlich die Infektionsgefahr der neuen Varianten, also woran sieht man, dass eine Mutante ansteckender ist?
Es gibt Städte, wo die alte und die neue Variante gleichzeitig auftreten. Und dort schaut man, wie stark sich die eine und wie stark sich die andere Variante verbreitet – unter jeweils ähnlichen Bedingungen, was die Alters- und Risikogruppen angeht. Daraus lässt sich dann ein Unterschied im jeweiligen R-Wert berechnen und daraus wiederum ist ersichtlich, wie ansteckend die eine Variante im Vergleich zur anderen ist. Das wird vor allem sehr gut vom European Molecular Biology Laboratory’s European Bioinformatics Institute (EMBL-EBI) der Universität Cambridge gemacht – ein grosses Konsortium von Wissenschaftlern mit insgesamt 800 Mitarbeitern, die über sehr gute Sequenzierungsdaten verfügen und das besser auswerten können als jedes andere Land weltweit, einschliesslich der USA.
"Unser R-Wert ist zu schlecht für die neue Virusvariante"
In Grossbritannien und Irland, wo sich die Virusvarianten rasch ausgebreitet haben, gehen die Zahlen nach unten. In Deutschland auch. Worin genau liegt denn dann noch die Begründung für den Lockdown?
Tatsächlich geht im Vereinigten Königreich im Lockdown die Zahl der Neuinfektionen mit der mutierten Variante herunter. Ob das bei uns auch der Fall ist, ist strittig. Beim jetzigen R-Wert dürfte es vielmehr bei uns so sein, dass die alte Variante zurückgeht, derweil die neue Variante sich weiter ausbreitet. Unser aktueller R-Wert ist also gut genug für die alte Variante, aber zu schlecht für die neue. In England wirkt der Lockdown gegen beide.
Helfen die bekannten AHA-Regeln also nicht mehr richtig?
Doch, die helfen gegen die neuen Varianten auch, aber nur dann, wenn sie strenger eingehalten werden. Man muss sich das so vorstellen, dass man weniger Virus benötigt, um sich anzustecken. Wenn jemand, der ansteckend ist, in einem Raum mit anderen Menschen sitzt, steckt er – vereinfacht gesagt – mit der alten Variante zehn Leute an, mit der neuen Variante aber im Durchschnitt 13 oder 14. Und diese 13 oder 14 Menschen würden danach auch wieder 13 oder 14 statt nur zehn wie bei der alten Variante anstecken.
Das heisst, man müsste die bisherigen AHA-Regeln eigentlich verändern, also beispielsweise den Abstand von 1,5 Metern erhöhen?
Ja, wenn die neue Variante dominieren würde, müsste man tatsächlich die AHA-Regeln möglicherweise modifizieren. Das haben wir indirekt schon gemacht, denn die nun empfohlenen FFP2-Masken wirken sehr gut gegen die neuen Varianten.
Bedrohen die in Grossbritannien, Südafrika oder Brasilien entdeckten Mutationen die Wirksamkeit der bisher genehmigten Impfstoffe?
Wir wissen, dass die bisher zugelassenen Impfstoffe von Biontech und Moderna gegen die neuen Varianten wirken. Ob sie auch die 95-prozentige Wirksamkeit erreichen, das ist eine ganz andere Frage.
Jens Spahn und die Bundesregierung wollen einen Impfgipfel einberufen. Was kann ein solcher Gipfel erreichen, was nicht auch auf anderem Wege zu erreichen ist?
Ich halte einen solchen Impfgipfel von Herstellern und den Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen für sehr sinnvoll. Die Teilnehmer sollten sich verpflichten, genau zu beschreiben, wann welche Lieferung mit welchem Impfstoff zu erwarten ist und welcher Ausbau der Produktionskapazitäten noch möglich ist.
Die Kanzlerin soll gesagt haben, die Pandemiesituation sei uns entglitten. Würden Sie das auch so sehen?
Ja, in den Pflegeeinrichtungen, bei der Entwicklung der Fallzahlen und auch bei der Impfung gab es einen gewissen, vorübergehenden Kontrollverlust. Wir gewinnen gerade die Kontrolle zurück und bekommen die Situation wieder in den Griff, aber wir müssen vorsichtig sein, dass sie uns nicht wieder entgleitet.
Innenminister Horst Seehofer will den Flugverkehr einschränken, generell sollen Reisen begrenzt werden. Ist das sinnvoll?
Das halte ich in der Tat für sehr sinnvoll und das passiert auch keine Minute zu spät. Wir müssen alles tun, um die gefährlichen Mutanten von Deutschland fernzuhalten, solange wir das können. Daher ist der touristische Reiseverkehr zum jetzigen Zeitpunkt ein grosses Problem. Diesbezüglich stimme ich Horst Seehofer ohne Wenn und Aber zu.
"Wir brauchen mal wieder einen Erfolg"
Laut aktuellem Deutschlandtrend ist erstmals eine Mehrheit der Befragten unzufrieden mit dem Kurs der Bundesregierung. Wie lässt sich dieser Trend umkehren?
Der Lockdown muss erfolgreich sein und wir brauchen Transparenz beim Impfgeschehen. Das Entscheidende wird sein, die Inzidenz mit den jetzigen Massnahmen unter 25 zu bekommen. Wir brauchen mal wieder einen Erfolg, dass wir von den hohen Sterbezahlen herunterkommen und die Neuinfektionen eindämmen, damit die Gesundheitsämter wieder ihre Arbeit machen können.
Sind die Gesundheitsämter inzwischen so ausgerüstet, dass sie der Nachverfolgung wieder Herr werden können?
Wenn die Inzidenz auf unter 25 sinkt, können die Gesundheitsämter die Fälle in Deutschland wieder nachvollziehen. Es ist richtig, dass die SORMAS-Software längst hätte eingeführt werden müssen, das ist für mich unverständlich, dass das nur bei einem Drittel der Gesundheitsämter passiert ist. Aber auch ohne dieses Programm in der Fläche ist es möglich, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen.
Der aktuelle Lockdown gilt bis 14. Februar – ist das Datum aus Ihrer Sicht haltbar?
Ich würde es nicht von einem Datum abhängig machen, sondern davon, wann wir den R-Wert kleiner als 0,7 und eine Inzidenz von 25 erreichen. Aktuell liegt die Grenze bei 50, aber ich würde mir wünschen, dass man sich auf den Zielwert 25 konzentriert und sich nicht per Salamitaktik von Termin zu Termin hangelt.
Nicht erst seit der Pflicht, FFP2-Masken in den öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Einkaufen zu tragen, fragt man sich: Vergisst die Regierung in der Pandemie die finanziell Schwachen? Nicht alle Eltern von Schülern können sich Tablets oder Computer leisten.
Der Bund stellt entsprechende Mittel bereit, etwa für die Schulen, aber zuständig sind dafür die Länder. Der Bund kann nicht einfach die Schüler eines Bundeslandes mit Laptops beschenken.
Aber er könnte den Hartz-IV-Satz pauschal erhöhen.
Das könnte er, richtig. Er könnte vor allen Dingen FFP2-Masken für die Bezieher von Arbeitslosengeld 2 kostenlos zur Verfügung stellen, und in der Tat, eine Veränderung der Regelsätze und der Gesetze ist ja in der Diskussion. Wir als SPD wollen das Hartz-IV-Grundgerüst ganz grundsätzlich überwinden. Ich sage schon seit Jahren, dass die Hartz-IV-Logik die Menschen demütigt und gefährdet, gesundheitlich und auch menschlich. Die Empfänger von ALG 2 haben eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. Das ist wirklich keine gute Gesetzgebung gewesen, die wir damals eingeführt haben. Daher bin ich in diesem Bereich für eine massive Veränderung.
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