• Nach dem Chaos einer blutigen Protestwoche geht es in Kasachstan um die Aufarbeitung der Geschehnisse.
  • Immer klarer wird, dass die Sicherheitskräfte wohl nicht nur gegen gewöhnliche Bürger vorgingen.
  • Der Präsident spricht von einem Putschversuch - doch stimmt das?

Mehr aktuelle News finden Sie hier

In der kasachischen Millionenstadt Almaty wird aufgeräumt: Ausgebrannte Autos werden abgeschleppt, Verkäuferinnen kehren Scherben vor ihren geplünderten Geschäften zusammen. Eine Woche schwerster Ausschreitungen mit Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten hat Spuren hinterlassen.

Langsam stabilisiert sich die Lage. Das Innenministerium sprach der Agentur Tengrinews zufolge davon, dass während der Unruhen etwa 9.900 Menschen in Gewahrsam gekommen seien. Auch das Ausmass der Unruhen wird auf den Strassen deutlich. "Die Bilder von der zerstörten Stadt sind wirklich schrecklich", schreibt eine Einwohnerin der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Deutlich wird nun auch, dass die Zerstörung wohl keinesfalls nur eine Folge von Unmut durchschnittlicher Bürger über gestiegene Treibstoffpreise, Korruption und die autoritäre Staatsführung war. Die Machtverhältnisse in Kasachstan haben sich nach dieser Woche, die viele Menschen das Leben kostete, zumindest verschoben.

Experten vermuten organisierte Randalierer unter Demonstranten

Kasachische Experten sind sich zunehmend einig, dass es neben vielen friedlichen Demonstranten offenbar auch organisierte gewalttätige Randalierer gab - insbesondere in Almaty, Kasachstans grösster Stadt und ihrem wirtschaftlichen Zentrum.

Diese beiden Gruppen gelte es streng zu trennen, betont die Soziologin Diana Kudajbergenowa, die an der Universität Cambridge lehrt, auf Twitter. "In Almaty wurden friedliche Proteste von organisierten kriminellen Gruppen geklaut."

Anwohner berichteten von Schussgeräuschen und von randalierenden Mobs, die durch die Strassen zogen. Mehrere Waffengeschäfte wurden geplündert. Im Internet kursiert ein Video von Männern, die sich Gewehre aus dem Kofferraum eines Autos schnappen.

"Ab dem 4. Januar spielten (...) im Vorfeld vorbereitete Sturmtruppen die Hauptrolle, die ohne irgendwelche Losungen auf gewaltvolle Konfrontation aus waren", schreibt der kasachische Politologe Danijar Aschimbajew.

Als Indiz für ein koordiniertes Vorgehen sehen Experten vor allem, dass offenbar zielgerichtet strategisch wichtige Punkte wie Polizeidienststellen und Verwaltungsgebäude angegriffen wurden.

Diese schnelle Radikalisierung des Protests sei nicht nur durch spontan eskalierte Wut junger Männer auf den Strassen zu erklären, heisst es in einer Analyse des Moskauer Carnegie Centre. Auch die russische Tageszeitung "Kommersant" wundert sich über die Überforderung und Machtlosigkeit der kasachischen Behörden gegenüber den Randalierern.

Machtkampf inmitten der Unruhen in Kasachstan

"Dies ist der Versuch eines Staatsstreichs", sagt Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Russlands Staatschef Wladimir Putin spricht auf einer Sitzung eines von Moskau geführten Militärbündnisses, das nun in Kasachstan im Einsatz ist, von "zerstörerischen Kräften von aussen". Belege dafür fehlen bislang.

Schon vor längerer Zeit habe sich - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - ein Machtkampf zwischen Präsident Tokajew und seinem einstigen Ziehvater, dem 2019 zurückgetretenen Langzeit-Machthaber Nursultan Nasarbajew, entfacht, schreiben die Carnegie-Experten.

Offenbar habe es Leute im Land gegeben, denen nicht gefiel, dass Tokajew mächtiger geworden sei, meint der Politologe Marat Schibutow. "Was auch immer es ist, es ist ein interner Kampf", schreibt die Politologin Nargis Kassenowa während der Unruhen auf Twitter.

Einen Protegé Nasarbajews, Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow, liess Tokajew festnehmen. Entlassen hat Tokajew zudem zahlreiche weitere Nasarbajew-Vertraute, die gesamte Regierung und Nasarbajew selbst - vom Posten als Chef des einflussreichen Sicherheitsrates. Den übernahm Tokajew.

Erst Tage später meldete sich Nasarbajew, der bis zum Beginn der Proteste noch als mächtigster Mann im neuntgrössten Land der Erde und als Strippenzieher im Hintergrund galt, zu Wort. Er habe den Posten freiwillig geräumt, liess der 81-Jährige ausrichten.

Derweil hat Kasachstan einen neuen Regierungschef. Das Parlament stimmte am Dienstag für Alichan Smailow, der den Posten bereits übergangsweise nach der Entlassung der alten Regierung vor gut einer Woche innehatte, wie das Staatsfernsehen berichtete.

Präsident Kassym-Schomart Tokajew hatte kurz zuvor den 49-Jährigen als Ministerpräsidenten vorgeschlagen. Smailow war zuvor Vize-Regierungschef sowie in der Vergangenheit mehrere Jahre lang Finanzminister.

"Die Ära Nasarbajews ist in Kasachstan zu Ende"

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob es sich wirklich - wie Tokajew sagt - um einen Putschversuch handelte. Und wenn ja, wer ihn angezettelt hat. Klarer hingegen ist, dass der frühere Diplomat die Krise ganz offensichtlich für den Ausbau des eigenen Einflusses nutzt. "Das Wichtigste ist offensichtlich: Die Ära Nasarbajews ist in Kasachstan zu Ende", heisst es im Carnegie-Bericht.

Der Preis für Tokajews neue Machtfülle könnte gross sein: ein erhöhter russischer Einfluss etwa - und das ausgerechnet rund 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In den Wirrungen der ersten Protesttage hätten zudem Geschäftsleute aus Angst vor einem Umbruch scharenweise das öl- und gasreiche Land verlassen, schreibt der Experte Schibutow. "Jeder, der konnte, ist weggeflogen." Für Tokajew geht es nun darum, möglichst viele Investoren im Land zu halten.

Für die Bevölkerung hingegen geht es nun um eine Aufarbeitung der Ereignisse - gerade für diejenigen, die friedlich für Verbesserungen in ihrem Land auf die Strassen gingen. "Die kasachische Regierung schuldet uns die Wahrheit, vollständig und ungekürzt", schreibt Politologin Kassenowa. "Die Leute sind nicht dumm, sie sind sauer." (dpa/thp)

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.