Hungern muss er nicht. Der fünfjährige Niels hat auch ein eigenes Zimmer, trägt saubere Kleider und trainiert im Fussballklub. Was seine Mutter verdient, reicht den beiden aber nicht zum Leben, sie sind auf Hilfe angewiesen: Prekarität ist in der Schweiz meist nicht auf den ersten Blick sichtbar, hinterlässt bei den Betroffenen aber Spuren.
Kürzlich haben sich Niels und seine Mutter einen "Luxus-Tag" geleistet. Dank vergünstigten Tickets besuchten sie eine Zirkusvorstellung. Und es kommt noch besser: "Wir tranken auch noch einen Kaffee in einem Bistrot und assen ein Brötchen dazu", erzählt die 38-jährige Frau mit leiser Stimme. Sie lächelt.
Ihr Sohn Niels strahlt übers ganze Gesicht. Er wirbelt durch die Küche, scheint vor Energie zu strotzen, will auch erzählen und die Wohnung zeigen, in der die beiden seit diesem Sommer leben. Niels fühlt sich offenbar wohl hier. Sein Zimmer habe drei Türen, sagt er stolz. Eine führt in die Küche, eine ins Wohnzimmer und eine auf den Balkon.
"Wie ein Sechser im Lotto"
Die helle Neubauwohnung liegt im zweiten Stock und gehört zu einer noch nicht fertigen Überbauung. Der Balkon bietet Aussicht auf eine riesige Baustelle. "Hier entsteht ein neues, lebendiges Quartier, das du mitgestalten kannst", wirbt Habitat für das Projekt. Die Stiftung setzt sich für bezahlbare Wohnungen ein. Gutverdiener bezahlen mehr als Mieter mit kleinem Einkommen.
Bereits bei unserer ersten Kontaktaufnahme am Telefon hatte sich die Mutter von Niels fast ein bisschen für die "schöne, neue Wohnung" entschuldigt. Sie entspreche nicht dem typischen Bild einer Alleinerziehenden, die auf Sozialhilfe angewiesen sei. Die Angst, als Schmarotzerin abgestempelt zu werden, ist bei vielen armutsgefährdeten und -betroffenen Menschen gross.
"Es war wie ein Sechser im Lotto", erzählt sie nun am Küchentisch. Während Monaten hatte die zierliche Frau ihren Sohn am Abend nach der Arbeit in der Kita abgeholt, um anschliessend bei einer freiwerdenden Wohnung mit anderen Interessenten Schlange zu stehen. Die Wohnungen, die ihrem Budget entsprachen, lagen aber entweder direkt an einer Autobahn oder hatten kein eigenes WC. Lieber blieb sie unter diesen Umständen in der alten Wohnung – und suchte weiter. Bis sich Habitat meldete.
Zwischen 800 und 1200 Franken pro Monat
Seither fühle sie sich nicht mehr arm, es gehe ihr besser, erzählt die Mutter. Die Bewegungspädagogin verdient zwischen 800 und 1200 Franken pro Monat, das reicht nicht weit. Im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung sind Alleinerziehende in der Schweiz mehr als doppelt so häufig von Armut betroffen, wie eine Studie der Universität Bern im Auftrag der Caritas Schweiz zeigt. Sie machen knapp 20 Prozent der Fälle in der Sozialhilfe aus. 2015 war jede sechste Familie in der Schweiz alleinerziehend, Tendenz steigend.
Niels Eltern trennten sich, als seine Mutter im sechsten Monat schwanger war. Nach vier Jahren in Frankreich kehrte sie in die Schweiz zurück. Sie war auf sich alleine gestellt und auf finanzielle Hilfe angewiesen. Sechs Monate nach der Geburt begann sie wieder zu arbeiten. Sie erhielt nur Anstellungen im Stundenlohn, ein Versuch, sich selbständig zu machen missglückte.
Laut der Caritas-Studie verrichten Alleinerziehende mit Kindern unter sechs Jahren im Durchschnitt 17 Wochenstunden Erwerbsarbeit und 54 Stunden Haus- und Familienarbeit. Die Armutsquote unter den Erwerbstätigen liegt bei Alleinerziehenden fast viermal höher. "Ich war geschockt und wütend über diese wahnsinnig anstrengende und aussichtslose Situation. Manchmal reichte das Geld kaum noch, um Windeln für Niels zu kaufen."
Die Mutter von Niels wählt ihre Worte mit Bedacht. Ihr Blick wirkt müde. Niels hört zu und wird plötzlich ruhiger. Es ist als spüre er, dass es für seine Mutter nicht leicht ist, sich an diese Zeit der totalen Erschöpfung zu erinnern.
Unterstützung hängt vom Wohnort ab
Seit Niels etwas älter ist, geht es besser. Doch auch jetzt liegt es nicht drin, schnell im Coop nebenan etwas kaufen zu gehen, das vergessen ging. "Du musst immer vorausdenken und alles planen. Das macht müde." Niels und seine Mutter fahren zum Einkaufen über die Grenze nach Deutschland. Auf der Suche nach einem Velohelm für Niels klappern die beiden die Brockenhäuser in Basel ab – das braucht Zeit und Energie.
Niels fährt mit seinem Fahrrad Runden auf der Passerelle vor der Wohnungstür. Er hat auch ein Skateboard und einen Go-Kart. "Alles gebraucht und geschenkt", präzisiert die Mutter, Niels selber scheint das nicht zu kümmern, er strahlt wieder und erzählt, dass er im Fussballklub trainiere. Geld dafür erhält seine Mutter von der Sozialhilfe. Würde Niels in einem anderen Kanton leben, könnte er möglicherweise nicht trainieren, um mal so gut zu spielen wie Ronaldo, wie er sagt. Die Sozialhilfe ist in der Schweiz kantonal geregelt und deshalb vom Wohnort abhängig.
Doch auch anderen armutsgefährdeten Kindern bleibt die Teilnahme am sozialen Leben zum Teil verwehrt: Eltern, die keine Sozialhilfe erhalten, weil sie gerade noch genug verdienen, können ihren Kindern deutlich weniger bieten. Für sie ist es schwierig, "dabei zu sein". Auch Niels hat das schon zu spüren gekriegt.
"Du hast dein Leben nicht im Griff"
Eingeladen an einen Kindergeburtstag bildete er zusammen mit den anderen kleinen Gästen eine Schlange, um dem Geburtstagskind sein Geschenk zu übergeben. Unter all den grossen, schön eingepackten Lego-Kisten fiel Niels mit seinem kleinen gefalteten Ballonhund buchstäblich aus der Reihe.
Dennoch hat die Mutter von Niels nur einen Wunsch: Weg von der Sozialhilfe. Sie habe das Gefühl, im Ausnahmezustand zu leben. "Ich kann es nicht geniessen, mir sagen, 'nun bin ich halt bei der Sozialhilfe und da bleibe ich'". Am meisten leidet sie unter der Stigmatisierung, die sie im Alltag erfährt. Immer wieder kriegt sie zu hören, sie habe ihr Leben nicht im Griff. "Du gibst dein Bestes, aber kriegst dauernd aufs Dach." Das ist zermürbend. "Ich hatte vor sechs Jahren ein deutlich besseres Selbstwertgefühl als heute."
Niels wird wieder ruhiger und setzt sich auf den Schoss seiner Mutter. "Wie lange dauert es noch einmal, bis ich Geburtstag habe, Mama?", fragt er zum zweiten Mal an diesem Tag. Niels möchte zu seinem Geburtstag kurz vor Jahresende gerne mit seiner Mutter in den McDonald's essen gehen. Und von seinem Vater in Frankreich wünscht er sich ein sogenanntes "Hoverboard". "Mein Vater ist reich", erzählt er strahlend und springt wieder durch die Küche. "Er hat einen Fernseher und ein Auto."
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