Die EU sucht in der Migrationsfrage nach Lösungen. Der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, will noch vor den Europawahlen 2024 einen Durchbruch erzielen. Im Gespräch mit unserer Redaktion spricht er über einen Flüchtlingspakt mit Tunesien, Klimaflüchtlinge und eine Zusammenarbeit mit rechtsradikalen Parteien im EU-Parlament.
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Manfred Weber: Wir wollen die offene Wunde schliessen, die die ungelöste Migrationsfrage in Europa nach wie vor ist. Für uns als Christdemokraten gibt es da zwei Seiten der Medaille: Die eine ist, wie wir Flüchtlinge gerecht verteilen in Europa, und die andere ist die Entschiedenheit an der Aussengrenze. Die meisten Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, kommen in Südeuropa und hauptsächlich in Italien an. Deshalb ist mein Appell an Präsident Macron und Bundeskanzler Scholz: Lasst Italien mit dieser Situation nicht allein!
Was heisst das konkret?
Wir sollten beispielsweise deutsche Grenzschutzboote ins Mittelmeer schicken und die Italiener dort bei der Seenotrettung, aber auch beim Grenzschutz unterstützen. Wir müssen die Aussengrenzen des Schengen-Raums als unsere europäischen und damit auch als unsere deutschen Aussengrenzen begreifen. Es sind nicht nur italienische oder griechische Grenzen – sondern unsere gemeinsamen europäischen Grenzen. Eine gesicherte und kontrollierte Aussengrenze ist auch die Voraussetzung für die Reisefreiheit im Innern. Deshalb sollten europäische Beamte von Frontex die Grenzsicherung mehr und mehr mit übernehmen. Dazu brauchen wir schnellstmöglich 10.000 Frontex-Beamte einsatzbereit.
Dann bliebe immer noch die Verteilungsfrage für diejenigen, die Asyl bekommen. Muss Deutschland da mehr Verantwortung übernehmen?
Wenn Sie sich die Zahlen heute anschauen, leisten wir Deutschen sehr viel. Wir haben viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen. Wir haben heute eine komplett andere Lage als 2015, als wir vor allem über die Westbalkanroute die grosse Migrationskrise hatten. Heute ist die Verteilung einigermassen in Ordnung. Manche Länder wie Portugal, Irland oder Frankreich könnten etwas mehr tun. Wir als Europäisches Parlament haben uns auf eine gemeinsame Linie geeinigt, die mehr Solidarität untereinander und einen humanitären Schutz an den Aussengrenzen vorsieht. Wir hoffen, dass nun auch die Innenminister der Mitgliedstaaten Verhandlungsbereitschaft zeigen. Wir müssen 2023 endlich den Durchbruch schaffen und nicht mit einer offenen Migrationsdebatte in die Europawahlen gehen.
Manfred Weber: "Das Asylrecht ist eine grosse Errungenschaft"
Die Länder streiten schon seit über zehn Jahren über eine gerechte Verteilung. Warum sollte das Problem jetzt auf einmal innerhalb eines Jahres gelöst werden?
Das stimmt. Es ist eine Mammutaufgabe. Wir haben aber politisch eine neue Lage. Durch den Krieg in der Ukraine haben viele Länder in Mittel- und Osteuropa Verständnis dafür entwickelt, dass wir Solidarität brauchen. Diese Länder spüren jetzt, dass es ihnen hilft, dass andere Länder in der EU die Türen für die Ukrainer geöffnet haben. Sie spüren, wie wertvoll Solidarität in so einer Situation ist. Diese Entwicklungen haben zu einem anderen europäischen Geist geführt – das hoffe ich zumindest.
Um die Ankunftsländer zu entlasten, fordern Sie auch einen Migrationspakt mit Tunesien – wie soll der aussehen?
Wir haben eine Art Blaupause: das Türkei-Abkommen. Das ist zwar sicher nicht perfekt, aber hat in wichtigen Teilen funktioniert und dazu geführt, dass die illegale Migration über die griechisch-türkische Grenze reduziert worden ist. Wir haben der Türkei Mittel bereitgestellt, um sich um Flüchtlinge zu kümmern und sie möglichst nahe an deren Heimat unterzubringen. Das hat Früchte getragen und so etwas brauchen wir jetzt mit Tunesien und anderen Ländern in Nordafrika. Über die Hälfte der Menschen, die über das Mittelmeer kommen, sind illegale Migranten. Sie bekommen in einem rechtsstaatlichen Verfahren in Europa keinen Asylstatus. Mithilfe von Tunesien könnten wir den Schlepperbanden besser das Handwerk legen, die mit dem Leid der Menschen Milliarden verdienen.
Wenn ihr Asylantrag anerkannt wird, können die Menschen dann aber sicher über das Mittelmeer gelangen?
Absolut. Ich bin klar der Meinung, dass wir den Menschen, die wirklich einen Schutzstatus haben, den Zugang zu Europa möglich machen müssen. Das Asylrecht ist eine grosse Errungenschaft von Europa – es ist entstanden aus unserer Geschichte. Wir haben aus den schlimmen Phasen der Geschichte gelernt, dass wir dieses Recht brauchen.
Wie sollen diese ganzen Asylverfahren in den nordafrikanischen Ländern ablaufen?
Wir sprechen uns da für ein Schnellverfahren an den Aussengrenzen aus, in dem klar wird: Gibt es eine Bleibeperspektive, ja oder nein? Da müssen wir schneller werden, auch im Sinne der Betroffenen. Die hängen heute teils jahrelang in Verfahren fest, ohne zu wissen, ob sie eine Bleibeperspektive bekommen. Das ist auch für sie eine Belastung.
Im Sudan überziehen zwei Warlords aktuell ihr Land mit Krieg. Erwarten Sie hier eine neue, grössere Fluchtbewegung?
Das ist eine kritische Entwicklung. Unser Einfluss auf die Region ist begrenzt, aber wo immer wir positiv Einfluss nehmen können, müssen wir das tun. Bei diesen Bürgerkriegen ist das Allerwichtigste, dass wir helfen, heimatnah Versorgungskapazitäten aufzubauen. Im Regelfall wollen die Menschen nicht dauerhaft ihre Heimat verlassen, sondern suchen temporär Schutz. Das sehen wir in Europa bei den Flüchtlingen aus der Ukraine, die vermehrt in Osteuropa unterkommen wollen. Deshalb müssen wir in allererster Linie die Staaten rund um den Sudan unterstützen.
Neben dem Krieg fliehen viele Menschen in Afrika auch vor den Folgen des Klimawandels, weil ihre Heimat aufgrund des Klimawandels unbewohnbar geworden ist. Sollten diese Menschen in Zukunft asylberechtigt sein?
Die Klimaentwicklung ist dramatisch, deshalb müssen wir als Europäer beim Kampf gegen den Klimawandel vorangehen und auch anderen Ländern helfen, etwa in Afrika. Ich sehe allerdings derzeit nicht die Notwendigkeit, dass wir Klimaentwicklungen als Aufnahmegrund für die Europäische Union definieren sollten. Es gibt fast überall Orte, die von den Klimaentwicklungen, zum Beispiel bei Hochwasser, nicht so stark betroffen sind. Das sollte die erste Lösung sein, diese heimatnahen Schutzmöglichkeiten zu schaffen.
Manche Klimaveränderungen sind dauerhaft und machen Gegenden für immer unbewohnbar. Ist Europa als einer der grössten Klimaverschmutzer der Geschichte da nicht in der Verantwortung?
Wir sind durch die Industrialisierung ein grosser Mitverursacher der heutigen Entwicklung. Aber wir müssen das realistisch sehen: Auch die Dürren und Hungerkatastrophen, die es in der Vergangenheit gab, haben Menschen zur Flucht gezwungen. Sie waren aber auch eine Motivation für uns, Methoden und Technologien zu entwickeln, die diesen Regionen helfen, wie sie zum Beispiel mit Dürren besser umgehen können. Wir unterstützen in diesen Fällen auch mit Entwicklungshilfe und kurzfristig mit Nahrungsmittellieferungen. Das muss unser Anspruch sein. Wir werden die Probleme der Welt nicht lösen, wenn wir alle Türen nach Europa aufmachen.
Arbeiten Sie in Migrationsfragen mit rechtsradikalen Parteien wie der Fratelli d'Italia oder dem Rassemblement National im Europäischen Parlament zusammen?
Es gibt mit dem Rassemblement National keine Zusammenarbeit. Mit Rechtsradikalen und Gegnern der Europäischen Union wird die EVP nicht zusammenarbeiten. Die EVP ist die Partei des Rechtsstaats. Wir wollen an den Aussengrenzen Menschen humanitär helfen und stehen zum Asylrecht. Das macht einen Unterschied der EVP zu Radikalen wie zum Beispiel der deutschen AfD aus. Wir sehen hinter dem Flüchtling den Menschen, egal ob er ein illegaler Migrant ist oder jemand, der einen Asylgrund hat.
Griechenland wird von einer christdemokratischen Partei geführt. Auch hier gibt es Berichte von Pushbacks und illegalen Zurückweisungen.
Pushbacks sind rechtlich verboten in der Europäischen Union. Sie dürfen nicht stattfinden. Und wenn sie stattfinden, sind sie ein Fall für Untersuchungen. Das gilt für alle Staaten der Europäischen Union. Für Griechenland genauso wie für Spanien, wo Verstösse an der spanisch-marokkanischen Grenze gemeldet wurden. Aber: Entschieden wird das in einem Rechtsstaat von der Justiz.
Im Europäischen Parlament gab es immer wieder Abstimmungen, bei denen die EVP mit rechtsradikalen Parteien gemeinsam Mehrheiten gebildet hat – zum Beispiel als es darum ging, die Finanzierung zivilgesellschaftlicher Seenotrettung zu verhindern. Wo ziehen Sie da die Grenze?
Wir stimmen bei Anträgen so ab, wie wir es als EVP für richtig halten. Und den Weg werden wir auch weitergehen. Die Grenze ziehen wir bei der Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen. Ich werde im demokratischen Wettbewerb dafür kämpfen, dass wir baldmöglichst wieder in einem Land leben, in dem die AfD nicht mehr in Parlamenten sitzt.
"Die EU ist heute weitgehend nackt in einer Welt von Stürmen"
In einem Jahr finden wieder Europawahlen statt. Ist
Wir haben einen klaren Zeitplan definiert. Im Juli kommen wir mit den Spitzen der nationalen Parteien zusammen und werden dort sowohl über die Inhalte als auch über die personelle Aufstellung beraten. Ursula von der Leyen macht eine gute Arbeit. Es liegt an ihr, sich zu überlegen, ob sie für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehen würde.
Bei den letzten Europawahlen sind Sie selbst als Spitzenkandidat der EVP angetreten – Kommissionspräsidentin wurde bekanntlich dann Ursula von der Leyen.
Damals hat die EVP bis zum Schluss für das demokratische Prinzip des Spitzenkandidaten gekämpft. Es waren die Liberalen, Sozialdemokraten und Macron, die dieses Prinzip zum Scheitern brachten. Die EVP wird wieder einen Spitzenkandidaten aufstellen.
Wie wollen Sie verhindern, dass am Ende doch wieder die Staatschefs über den Kommissionspräsidenten entscheiden und sich über das Spitzenkandidatenprinzip hinwegsetzen?
Es ist leider in den letzten Jahren nicht gelungen, rechtlich mehr Sicherheit zu schaffen. Deshalb muss es uns politisch gelingen. Ich werbe für das Prinzip und für ein demokratisches Europa. Und da gehört es fundamental dazu, dass man die Personen benennt, die die wichtigen Rollen nach Wahlen ausfüllen sollen – wie bei Bürgermeisterwahlen oder Bundestagswahlen auch. Die Menschen wollen wissen, wer dann führt. Die EVP setzt sich für dieses Prinzip ein, aber wir brauchen dafür politische Mehrheiten.
Tritt die EVP auch mit der Vision einer europäischen Armee an?
Die EU ist heute weitgehend nackt in einer Welt von Stürmen und nicht fähig, sich selbst zu verteidigen. Im Ernstfall wären wir auf unsere Nato-Partner ausserhalb der EU angewiesen. Die EU stellt nur 20 Prozent der militärischen Kapazitäten der Nato. Das zeigt in aller Dramatik, wo wir stehen. Deshalb ist es gut, dass die Mitgliedstaaten investieren – auch wir Deutschen mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden und einer Aufstockung des Verteidigungsetats. Allerdings sollten wir genau in dieser Situation europäisch denken und das Ziel einer engen europäischen Zusammenarbeit und Armee in den Blick nehmen. Konkret könnten wir bei der Cyberabwehr und einem europäischen Raketenschutzschirm beginnen.
Sind die einzelnen Mitgliedsstaaten bereit, ihre Souveränität da aufzugeben und sich dem Projekt einer europäischen Armee zu verschreiben?
Beim 100 Milliarden Sondervermögen in Deutschland sehe ich wenig, das europäisch angedacht wird. Speziell in der Bundesregierung steckt hinter der Behauptung, dass man europäisch denke, viel zu selten praktische Politik.
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