• Zwischen Armenien und Aserbaidschan ist es zu den schwersten Gefechten seit dem Krieg beider Länder vor zwei Jahren gekommen.
  • Worum streiten die beiden Länder? Welche Rolle spielt Russland dabei? Und welches Land gewinnt in der Region gerade immer weiter an Einfluss?
  • Expertin Nadja Douglas gibt Antworten.

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Der Konflikt schwelt seit Jahrzehnten und die Lage ist unübersichtlich: Armenien und Aserbaidschan sind seit Langem verfeindet und liefern sich immer wieder Kämpfe an den Landesgrenzen. Nun herrscht Sorge, es könnte erneut ein Krieg zwischen Eriwan und Baku ausbrechen. Dass dies gerade jetzt passiert, während Russland einen Krieg in der Ukraine führt, ist kein Zufall. Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

Worum streiten die Länder?

Zankapfel zwischen Eriwan und Baku ist vor allem die Region Bergkarabach. Sie ist seit Jahrhunderten umkämpft und stand bereits unter armenischem, persischem, tatarisch-mongolischem, türkischem und russischem Einfluss. Als Armenien und Aserbaidschan 1918 vom russischen Zarenreich unabhängig wurden, erhoben beide Anspruch auf die südkaukasische Region.

Mithilfe der Türkei erhielt Aserbaidschan das Verwaltungsrecht. In der Region leben allerdings überwiegend Armenier, denen Autonomierechte garantiert wurden. Dass diese immer wieder verletzt wurden, sorgt seit jeher für Spannungen. In den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kam es zum ersten grossen Krieg mit Zehntausenden Opfern.

Die Grenze zwischen den Ländern ist nach dem Zerfall der Sowjetunion nie festgeschrieben worden. Bergkarabach erklärte sich für unabhängig, jedoch ohne international anerkannt zu werden. Zur Absicherung besetzte Armenien aserbaidschanische Gebiete.

Was ist zuletzt passiert?

Im Herbst 2020 kam es erneut zu einer grossen militärischen Auseinandersetzung, in deren Rahmen rund 6.500 Menschen ums Leben kamen. Aserbaidschan eroberte von Armenien besetzte Gebiete zurück und kontrolliert den Grossteil der Region. Russland vermittelte damals einen Waffenstillstand und schickte Friedenstruppen nach Bergkarabach.

Vor wenigen Wochen flammte der Konflikt wieder auf. Laut Angaben des armenischen Verteidigungsministeriums sollen aserbaidschanische Truppen ursprünglich versucht haben, die Grenzen zu überschreiten. Dabei seien armenische Stellungen nahe der Städte Goris, Sotk und Dschermuk angegriffen worden.

Aserbaidschan behauptet das Gegenteil: Armenien habe Militärstellungen in der Grenzregion beschossen und einen gross angelegten Sabotageversuch vorgenommen. Beide Seiten meldeten Tote, am 15. September wurde eine Waffenruhe vereinbart.

Wer ist schuld an dem Konflikt?

"Die Schuldfrage ist sehr schwierig und kann nicht pauschal beantwortet werden", sagt die Politikwissenschaftlerin Nadja Douglas. Man könne nicht die eine oder andere Seite verantwortlich zeichnen. "Man kann nur jeweils in der konkreten Situation ausmachen, wer für Eskalation verantwortlich ist", meint Douglas. Aktuell gingen die Vorstösse von Aserbaidschan aus.

Allerdings war beispielsweise die Besetzung der aserbaidschanischen Gebiete durch Armenien in den 1990er Jahren völkerrechtswidrig. "Es ist allerdings auch immer schwierig, zu beurteilen, von welcher Seite die Gewalt ausgeht. Es gibt schliesslich keine unabhängigen Beobachter vor Ort", erklärt Douglas.

Russische Atomspezialeinheit Richtung Grenze unterwegs

Beunruhigende Entwicklungen im Ukrainekrieg: Es sei ein Zug mit militärischer Ausrüstung von Russland in die Ukraine unterwegs, der von einer Atomspezialeinheit des Kremls stammen soll. Droht die nächste Eskalation? © ProSiebenSat.1

Welche Rolle spielen Transportverbindungen in die Türkei?

"Es geht allerdings auch um einen Korridor, den Aserbaidschan und seine Unterstützermacht Türkei schaffen wollen", ergänzt die Politologin. Gemeint sind Transportverbindungen von Aserbaidschan über armenisches Gebiet in die Autonome Region Nachitschewan, einer an Armenien angrenzenden Exklave Aserbaidschans, welche zwischen Aserbaidschan und dem Südosten der Türkei liegt,

Etwa 50 Kilometer weiter östlich liegt die Region Bergkarabach. Wenn Aserbaidschan in Bergkarabach die Oberhand zurückgewinnt, dürften diese 50 Kilometer keine grosse Hürde mehr sein. "Die Armenier haben Angst, dass ihr souveränes Staatsgebiet auf diese Weise zweigeteilt wird und die Türkei und Aserbaidschan geopolitische Tatsachen schaffen", erklärt Douglas.

Wie dürfte es weitergehen?

Expertin Douglas fürchtet, dass die Situation weiter eskalieren könnte: "Aserbaidschan hat es bislang nicht geschafft, seine Ziele auf diplomatischem Wege zu erreichen, deshalb versucht man es jetzt auf militärischem Weg." Gleichzeitig sei zu befürchten, dass die russischen Friedenstruppen nicht eingreifen werden, weil sie dazu personell derzeit nicht in der Lage seien.

Kurz nach Ausbruch der Gefechte hat der armenische Staatschef Paschinjan offiziell die von Russland dominierte Militärallianz Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um Hilfe gebeten. Eriwan ist Mitglied der OVKS, Baku nicht. Eine Beistandsklausel der Organisation besagt, dass die OVKS eingreift, wenn ein Mitglied in seiner Souveränität durch ein Nichtmitglied angegriffen wird.

Allerdings hat sich Armenien bereits in der Vergangenheit erfolglos an die OVKS gewandt. Der Generalsekretär der Organisation soll im Spätherbst einen Bericht über die Lage im Südkaukasus präsentieren.

Ist eine Lösung in Sicht?

Aus Sicht von Experten handelt es sich um einen langwierigen Konflikt, bei dem keine Lösung in Sicht ist. "Es ist bislang keine nachhaltige Lösung des Konflikts gefunden worden", sagt auch Douglas. Die Fortschritte des 2020 vermittelten Waffenstillstandsabkommen und der trilateralen Arbeitsgruppen seien ziemlich überschaubar.

"Es ist nicht sehr aussichtsreich, dass Frieden einkehrt", schätzt Douglas daher. Der armenische Premier Nikol Paschinjan habe sich offen gegenüber einem Friedensabkommen gezeigt, allerdings sei die Bevölkerung mit den Zugeständnissen nicht einverstanden. "Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es sogar einen Umsturzversuch gibt", meint Douglas. Allerdings gebe es wiederum auch keinen überzeugenden Oppositionskandidaten, sondern eher ein politisches Vakuum in Armenien.

Welche Rolle spielt Russland?

"Russland war immer eine wichtige Ordnungsmacht in der Region, büsst diese Rolle aber zunehmend ein", sagt Douglas. Die Region im Südkaukasus, in der russische, türkische, US-amerikanische und iranische Interessen aufeinanderprallen, stellt für Moskau eine wichtige Pufferzone dar.

Moskau ist militärischer Partner Armeniens, unterhält aber auch freundschaftliche Beziehungen zu Aserbaidschan. Russland betreibt in Armenien eine Militärbasis mit Grenzsoldaten, das Land ist ausserdem wirtschaftlich und energiepolitisch von Russland abhängig.

Warum erfolgt die Eskalation gerade jetzt?

Beobachter glauben nicht, dass es ein Zufall ist, dass die Feindseligkeiten kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine eskalierten. "Der Ukraine-Konflikt, der viel mediale Aufmerksamkeit bekommt, hat Aserbaidschan eine gute Gelegenheit geboten", meint Douglas. Denn der Bergkarabach-Konflikt finde im Schatten statt, auch Russland ist durch seinen Krieg geschwächt und abgelenkt.

Aserbaidschan hatte schon mehrfach damit gedroht, die armenische territoriale Integrität anzugreifen. Mit den Angriffen könnte es seine Position in den Verhandlungen stärken und testen, inwieweit Russland bereit ist, Armenien beizustehen. Denn auch wenn Russland als Schutzmacht von Armenien gilt: Die Regierung von Nikol Paschinjan ist Moskau zu westlich orientiert.

Wie reagiert der Westen?

Die USA und die EU haben beide Seiten zur Deeskalation aufgerufen, die Türkei, Aserbaidschans Verbündeter, erklärte, sie unterstütze Baku. "Die Bundesregierung versucht, sich diplomatisch zurückzuhalten. Man kann ihr fast vorwerfen, dass sie sich ausweichend verhält", sagt Douglas.

"Gerade bei den jüngsten Gefechten wurde aber deutlich, dass Armenien in der Defensive ist", meint Expertin Douglas. Das Zögern dürfte einen Grund haben: Anfang August unterzeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan. Die EU will mehr Gas importieren, denn sie sucht dringend nach Alternativen zu russischen Energieimporten.

Über die Expertin:

Dr. Nadja Douglas ist Politikwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). In der Vergangenheit war sie Referentin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Deutschen Bundestag und arbeitete im Internationalen Sekretariat der Parlamentarischen Versammlung der OSZE.
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