Die kurdische Autonomieregion in Nordsyrien ist dem türkischen Präsidenten Erdogan schon lange ein Dorn im Auge. Nach der Millitäroffensive der Türkei rufen die syrischen Kurden Baschar al-Assad zu Hilfe. Es bedeutet das Ende ihrer Selbstverwaltung. Was bleibt noch vom Projekt "Rojava"?

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Es muss Maslum Abdi schwer gefallen sein, ausgerechnet den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wegen der türkischen Angriffe um Hilfe zu bitten. "Wir trauen ihren Versprechen nicht. Ehrlich gesagt ist schwer zu wissen, wem man vertrauen kann", schrieb der Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) über den Deal mit Damaskus.

Aber mit dem Abzug der US-Truppen und zunehmend heftigen Gefechten standen die von Kurdenmilizen geführten SDF mit dem Rücken zur Wand. "Wir stehen den türkischen Messern jetzt mit nackter Brust entgegen", schrieb Abdi.

Mit der Ankunft von Assads Regierungstruppen zur militärischen Rückendeckung steht das Projekt der mühsam erkämpften kurdischen Autonomie in Syrien vor dem Aus. Knapp ein Drittel des Staatsgebiets kontrollierten die SDF vor dem türkischen Einmarsch am 9. Oktober.

Assad hatte seine Truppen im Sommer 2012 aus diesen Kurdengebieten zurückgezogen, um andernorts im Land gegen Rebellen zu kämpfen. Der syrische Bürgerkrieg schuf damit Raum für die Gründung von "Rojava": der autonom verwalteten kurdischen Region in Syrien.

Am meisten Kurden in Türkei, Iran und Irak

International wurden diese Autonomiebestrebungen nicht anerkannt. Aber das Experiment bestärkte das kurdische Volk, das weltweit schätzungsweise 25 Millionen Menschen zählt und das bis heute keinen eigenen Staat hat. Die mit Abstand meisten Kurden leben in der Türkei, gefolgt vom Iran und dem Irak. In Syrien, wo Schätzungen zufolge eine Million Kurden leben, hatte die Regierung in den kurdischen Gebieten in den letzten Jahren faktisch keine Macht mehr.

Nun werden dort wieder syrische Flaggen gehisst, Panzer der Regierung rollen an. Die syrische Armee ist nach Al-Tabka, Tall Tamar, Manbidsch und Kobane eingerückt - der Ort, aus dem die Kurdenmilizen mit Unterstützung des US-Militärs 2015 die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) vertrieben.

Auch nach der am Donnerstag verkündeten vorläufigen Waffenruhe scheinen die Kurden keinerlei Garantie dafür zu haben, dass Assads Truppen irgendwann wieder abziehen werden. Der Deal mit mit Damaskus ist laut SDF ein "rein militärischer Schritt".

HDP will mehr Selbstbestimmung für die kurdische Minderheit

Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan spielt die Ankunft von Assads Truppen direkt in die Karten. Erdogan will ein autonomes Kurdengebiet in Nordsyrien zerschlagen und damit ein Modell, dass auch für Teile der kurdischen Minderheit in der Türkei attraktiv ist.

Gleichzeitig nutzt es ihm innenpolitisch: Er treibt einen Keil zwischen die pro-kurdische Partei HDP und den Rest der Opposition. Erdogan betrachtet die HDP als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, was diese entschieden zurückweist.

Das Projekt "Rojava" verfolgt die HDP mit grosser Aufmerksamkeit. Die Partei befürwortet nicht etwa die Gründung eines eigenen Staates, wie Erdogan und Nationalisten es ihr vorwerfen, sondern eine föderalistische Struktur innerhalb der Landesgrenzen mit mehr Selbstbestimmung für die kurdische Minderheit. Deswegen gebe es eine "gewisse Verwandtschaft im Bezug auf Rojava", sagt Azad Baris, stellvertretender HDP-Parteivorsitzender, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

"Rojava ist ein Dorn im Auge Erdogans. Weil es ein Beispiel ist für eine föderale Türkei mit kurdischer Autonomie", sagt Baris. Es handele sich um ein "demokratisches Experiment", das der Westen aber nicht verstehe.

Auch in Deutschland ist das Thema emotional extrem aufgeladen: In Nordrhein-Westfalen eskalierten vor einigen Tagen mehrere pro-kurdische Demonstrationen gegen den türkischen Einmarsch. Neun Menschen wurden verletzt, darunter fünf Polizisten.

Glauben als Privatsache war möglich

Für die Kurden im Nordosten Syriens war das Gebiet ein "Traum dessen, was möglich ist", sagt Forscherin Pinar Tank vom Osloer Institut für Friedensforschung Prio der Deutschen Presse-Agentur. "Sie haben ein vergleichsweise erfolgreiches Gebiet Syriens inmitten eines Bürgerkrieges geleitet und hatten sehr progressive Ideen."

Darunter: eigene Schulen, eigene Sicherheitskräfte und - mit Spenden aus dem Ausland - auch eine eigene Krankenversorgung. Mehrehen sind verboten, Frauen und Männer leiten öffentliche Ämter gemeinsam. Glauben gilt anders als in vielen Teilen des Nahen Ostens als Privatsache.

Das Projekt wankte aber vor allem, weil die PYD als politischer Arm der Kurdenmilizen in Syrien ihre Verbindungen zur PKK nicht kappte. Diese steht in der Türkei, den USA und Europa auf der Terrorliste. In den PYD-Büros hingen Bilder des inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan auf dieselbe Art, wie in türkischen Regierungsbüros Bilder von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zu sehen seien, sagt Tank.

Im Kampf zwischen der Türkei und der PKK, die mit Waffengewalt und Anschlägen ein Autonomiegebiet erzwingen will, kamen nach Zählungen des Think-Tanks Crisis Group seit Juli 2015 mehr als 4.600 Menschen ums Leben.

Mit Assad, der wieder ganz Syrien unter seine Kontrolle bringen will, werden die Kurden jetzt nur zähneknirschend zusammenarbeiten. Das Verhältnis ist gespalten - Assads Vater und Amtsvorgänger Hafis hatte bereits Zehntausenden Kurden die Staatsangehörigkeit aberkannt.

2011 dürfte die Zahl der staatenlosen Kurden in Syrien bei über 300.000 gelegen haben. Zugleich sitzen sie auf einem Gebiet, das reich ist an Ölreserven und landwirtschaftlichen Ressourcen. Und, ergänzt Tank zum Spagat zwischen den Mächten: "Sie verstehen sehr gut, wie sie die verschiedenen Kräfte gegeneinander ausspielen können." (kad/dpa)

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