Am vergangenen Wochenende hatten Djhidisten in kürzester Zeit die Grossstadt Aleppo in Syrien eingenommen. Auch andere Gegner des syrischen Machthabers Assad rücken vor. Könnte es jetzt zum Ende des syrischen Bürgerkriegs kommen, der bereits seit 2011 anhält?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Über Monate wurde die Stadt belagert, bis sie schliesslich am 22. Dezember 2016 offiziell von Regierungstruppen des Assad-Regimes als erobert erklärt wurde: Der Kampf um die Stadt Aleppo galt als eine der blutigsten und langwierigsten Schlachten des syrischen Bürgerkrieges, der seit 2011 anhält.

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In der Folge wurde Aleppo zum Wahrzeichen für die grausame Kriegsführung, die Machthaber Assad in Kooperation mit seinen iranischen und russischen Verbündeten praktizierte. Sein Sieg über die Rebellen dort galt als Zeichen dessen, dass Assad unbesiegbar war und am Ende die Oberhand behielt.

Nun wurde die Millionenstadt innerhalb weniger Stunden von einer Koalition aus dem dschihadistischen HTS und kurdischen Milizen zurückerobert. Selbst internationale Beobachter waren überrascht über die Geschwindigkeit, mit der die Rebellen die Stadtteile ohne grössere Gegenwehr einnahmen. Überall im Land regt sich die Opposition. Auch die Einnahme von weiteren Städten und der Hauptstadt Damaskus scheint in greifbarer Nähe.

Wer sind die Dschihadisten?

Das HTS für Haiat Tahrir al-Scham oder auf Deutsch "Komitee zur Befreiung der Levante" ist eine Nachfolgeorganisation der al-Nusra-Front, wiederum Nachfahre von Al-Quaida. Im Gegensatz zum sogenannten Islamischen Staat, der in Syrien vor ungefähr zehn Jahren seinen Machtbereich ausdehnte, hat das HTS eher einen regional begrenzten Anspruch und gilt in dem Sinne gemässigter als der IS.

Die Mitglieder des HTS möchten einen islamischen Staat auf dem Gebiet von Syrien, sehen jedoch keinen Kreuzzug gegen den Westen als übergeordnetes Ziel. Vielmehr hat das HTS einen politischen Anspruch, nämlich das Assad-Regime abzusetzen und durch eine islamistische Regierung zu ersetzen.

Auch militärisch scheint das HTS deutlich pragmatischer und vor allem professioneller zu sein als der IS oder Al Quaida. Die aktuelle Offensive wurde Medienberichten zufolge bereits monatelang vorbereitet und geprobt. Im Einsatz sind ausserdem Drohnen, ebenso wie verbesserte Raketen.

Haben die Dschihadisten Hilfe erhalten?

Der Eindruck entsteht: Die Dschihadisten haben sich an der Vorgehensweise der ukrainischen Armee im Verteidigungskrieg gegen Russland orientiert. Berichten der "Welt" zufolge seien auch ukrainische Geheimdienstmitarbeiter vor Ort und möglicherweise an einem Wissenstransfer zwischen Dschihadisten und ukrainischer Armee beteiligt gewesen sein.

Andre Bank vom Giga-Institut für Nahost-Studien erklärt gegenüber unserer Redaktion, dass es immer wieder Gerüchte gegeben habe, dass syrische Freiwillige auf Seiten der Ukraine und ebenfalls auf der Seite Russlands in der Ukraine kämpfen würden. Bestätigen könne er das allerdings nicht.

Wie gefährlich könnte der Vorstoss für Assad werden?

Aktuell rücken HTS und die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) gegen Assads Machtbereich vor, zudem versuchen kurdische Kämpfer, die von den USA unterstützt werden, ihren Einflussbereich auszudehnen. Andre Bank spricht von einer Eskalation, die es so schon lange nicht mehr gab: "Die Rebellen haben die Schwächephase der Unterstützer von Assad ausgenutzt."

Nicht nur ist Russland in der Ukraine mit seinen Kräften gebunden, sondern auch Iran und die durch Iran unterstützten Milizen wie die Hisbollah im Libanon sind durch die Schläge durch Israel stark geschwächt. Während der Hochzeit des syrischen Bürgerkriegs konnte Assad seine Herrschaft nur durch Hilfe der Hisbollah und später der russischen Luftwaffe sichern. Nun kann er auf diese Unterstützung nicht mehr im gleichen Masse bauen.

Gleichzeitig haben die dschihadistischen Kräfte im Nordwesten sich neu organisiert. "Abu Mohammad al-Jolani hat die Bewegung auf Linie gebracht. Er hat die interne Opposition ausgeschaltet und HTS wurde dadurch gestärkt", so Syrien-Experte Bank. Aus verfeindeten Gruppen wurde so eine einheitliche Organisation, die jetzt im Zweckverbund mit anderen oppositionellen Gruppen gegen die Assad-Einheiten vorgeht.

Assad ist geschwächt

Zusätzlich ist der syrische Machthaber Assad selbst stark geschwächt. "Der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes ist schon lange am Bröckeln. Ausserdem ist die wirtschaftliche Lage in den Regime-Gebieten so schlecht wie noch nie seit 2011", so Andre Bank. Über 90 Prozent der Bevölkerung in den Regime-Gebieten seien inzwischen verarmt und von Unterstützung abhängig.

Sollten die Rebellen Aleppo halten können und den Highway M5, der von Damaskus dorthin führt und gleichzeitig im Süden des Landes Rebellen ihre Macht ausbauen, dann könnte es zu einer breiteren Aufstandsbewegung im Land kommen. "Dann ist Assad massiv in Gefahr", so Bank. Es sei allerdings auch gut möglich, dass sich die sehr heterogene Gruppe der verschiedenen Rebellengruppen vorher zerstreitet und an internen Konflikten zerbricht.

Welche Interessen verfolgen andere Länder in Syrien?

Bereits seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind ausländische Mächte in dem Land aktiv. So verfolgt Russland dort etwa geostrategische Interessen. In Syrien besitzt die russische Marine den einzigen Mittelmeerhafen sowie die Luftwaffe den wichtigsten Luftwaffenstützpunkt der Region.

Iran nutzt das Land als Munitionslager und Logistikzentrum. Über Syrien gelangt Nachschub zu den Milizen, etwa im Libanon. Ausserdem ist das Land für Russland wie Iran ein wichtiger Ort für die Waffenproduktion geworden. "Dort werden Drohnen gefertigt, die in der Ukraine eingesetzt werden", so Syrien-Experte Bank. Möglicherweise finden dort auch gemeinsame Militärtrainings statt.

Die USA, die dort noch mit rund 900 Spezialkräften aktiv sind, hatten zunächst das Ziel, den Einfluss des sogenannten Islamischen Staat in der Region einzuhegen. Der designierte US-Präsident Donald Trump hatte aber bereits angekündigt, diese Truppen abzuziehen, wenn er an der Macht ist.

Die Türkei wiederum möchte als direkter Nachbar den kurdischen Einfluss einhegen. Daher werden die Kurden auch in Syrien bekämpft. Zudem möchte sie die Pufferzone der Besatzung im Norden Syriens ausdehnen, um syrische Flüchtlinge in der Türkei wieder zurückzuführen.

Welche Politik verfolgt die Bundesregierung gegenüber den Kriegsparteien?

Ganz offiziell ist die Position der Bundesregierung, dass man sich an der Resolution 2254 von Ende 2015 orientiert. Diese besagt, dass man nur dann Schritte auf die Assad-Regierung zugehe, wenn es merkliche Verbesserung der Menschenrechtssituation im Land gebe. Gleichzeitig werde innerhalb der EU versucht, diplomatische Verbindungen zum Assad-Regime aufzubauen. "Abschiebungen von Syrerinnen und Syrern aus Deutschland, etwa wie beim Attentäter des Anschlags in Solingen, der aus Syrien stammt, würde die Etablierung von Kontakten zum Assad-Regime nötig machen."

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Auf der anderen Seite ist Deutschland einer der Hauptgeber für Unterstützung von geflüchteten Syrern im Ausland. Ausserdem ist Deutschland bei der Strafverfolgung von Kriegsverbrechern aus Syrien aktiv. So wurde in Koblenz ab 2019 der erste Prozess gegen Verantwortliche für Staatsfolter im syrischen Bürgerkrieg durchgeführt.

Erwartet uns eine neue Fluchtbewegung wie 2015?

Innerhalb Syriens findet bereits eine Flüchtlingsbewegung statt. Diese habe aber auch schon im vergangenen Herbst stattgefunden, als die syrische Luftwaffe Idlib bombardiert hatte, so Syrien-Experte Andre Bank. Auch gebe es viele Syrer, die vor dem Krieg in den Libanon geflüchtet waren. Diese seien während der Angriffe Israels gegen die Hisbollah wieder nach Syrien geflüchtet und flüchteten nun abermals in den Libanon, wo offiziell eine Waffenruhe herrscht.

Für diejenigen, die vor einer neuen Eskalation der Gewalt flüchten, gibt es ohnehin keinen wirklichen Ort, an den sie flüchten könnten.

"Ich sehe wenig Bereitschaft der umliegenden Länder, neue Geflüchtete aufzunehmen", so Andre Bank. In der deutschen Gesellschaft sei es aktuell kaum tragfähig, weitere Geflüchtete aufzunehmen. Auch in anderen Ländern der EU sei wenig Bereitschaft erkennbar. "Das heisst, die flüchtenden Syrer hängen dort fest." Aktuell seien ungefähr sechs bis sieben Millionen Syrer aus dem Land geflüchtet. Auch innerhalb des Landes sei eine ähnliche Anzahl Menschen geflüchtet und verbleibe nun als Binnengeflüchtete im Land.

Welche Aussicht auf eine Lösung des Konflikts gibt es?

Bank ist hier pessimistisch: "Es wird eine Phase der massiven Gewalt geben, wenn sich dieser Aufstand ausbreitet. Assad hat in der Vergangenheit gezeigt, dass er zu allem fähig ist." Allerdings gebe es einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass sich durch den Vorstoss der Dschihadisten Räume öffneten, in denen sich kleine Gruppen, etwa zivile Organisationen, ausbreiten und den Menschen vor Ort ein besseres Leben ermöglichen.

Bank würde es befürworten, die Syrer in Deutschland in den Prozess miteinzubinden, sobald es die Möglichkeit dazu gibt. "Es ist auffällig, dass die Bundesregierung das bisher noch nicht getan hatte." Damit Assad stürzt, müsste aber zumindest Iran oder Russland Assad fallen lassen. "Das sehe ich bisher noch nicht", so der Syrien-Experte.

Über die Person

  • Andre Bank ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien. Er ist spezialisiert auf Syrien und den dortigen Bürgerkrieg.

Verwendete Quellen

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