Zehntausende Menschen fliehen in Syrien aus dem Osten Aleppos. Sie suchen Zuflucht im Westen der Stadt oder in grossen Notunterkünften. Selbst wenn die Kämpfe der Bürgerkriegsparteien bald ein Ende haben sollten: Viele Zivilisten sind weiterhin nicht in Sicherheit.

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Von 40.000 Menschen spricht das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR): So viele Bewohner des Ostteils der syrischen Millionenstadt Aleppo sollen inzwischen auf der Flucht sein. Sie haben dort lange ausgeharrt, aber die verheerenden Kämpfe zwischen den syrischen Regierungstruppen und den Rebellen haben ihnen keine andere Wahl mehr gelassen.

Tausende Menschen haben in Notunterkünften in der Umgebung Zuflucht gesucht, sind zum Teil aber auch schon wieder weitergezogen. "Alles geht so schnell, dass die Zahl der Obdachlosen auch noch höher sein könnte", erklärt UNHCR-Sprecher Scott Craig auf Anfrage unserer Redaktion. "Zivilisten aus Ost-Aleppo, die von den Vereinten Nationen interviewt wurden, haben Szenen von völliger Zerstörung und Chaos beschrieben", so Craig. Die Situation dort sei "jenseits jeder Vorstellungskraft".

Wohin fliehen die Menschen in Aleppo?

Aber wohin soll man fliehen, wenn das ganze Land vom Bürgerkrieg gezeichnet ist? Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten haben rund 19.000 Menschen Unterschlupf in den Häusern im Westen der Stadt gefunden.

Rund 15.000 befanden sich nach Stand vom Montag dagegen in grossen Notunterkünften am Stadtrand. Allein im Flüchtlingslager Mahalej seien am vergangenen Wochenende bis zu 7.500 Menschen angekommen, erklärt Scott Craig.

Er habe noch nie so viel Leid gesehen wie dort in Mahalej, twittert Pawel Krzysiek vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC). Die Einsatzkräfte haben in einer alten Baumwollfabrik unzählige Matratzen ausgelegt, berichtet er in einem Video. Sie arbeiten rund um die Uhr, um die Obdachlosen mit dem Allernötigsten zu versorgen. "Viele wollen einfach nur nach Hause", schreibt Krzysiek in dem Kurznachrichtendienst.

Niederlage der Rebellen in Sicht

Die Niederlage der Rebellen steht in Aleppo offenbar kurz bevor. Und auch wenn die eigentlichen Kampfhandlungen dann vorerst ein Ende hätten: Die Menschen in Aleppo können offenbar nicht mit Sicherheit rechnen. Sie befürchten Rache und Vergeltung. Nach Angaben der Vereinten Nationen sollen regimetreue Kämpfer am Dienstag mindestens 82 Zivilisten erschossen haben. "Das Ziel des Feldzugs ist nicht nur die militärische Kontrolle", erklärt Daniel Gerlach im Gespräch mit unserer Redaktion. Er ist Syrien-Experte und Chefredakteur von Zenith, einem deutschen Magazin über die muslimische Welt. "Es geht der Regierung auch darum, die Zusammensetzung der Bevölkerung zu verändern: Strategisch wichtige Stadtteile will sie so besiedeln, dass dort keine potenziellen Aufständischen mehr leben", so Gerlach. Teile der sunnitischen Bevölkerung halte das Regime etwa für potenziell illoyal – und das gelte nicht für die Kämpfer der Opposition. "Zivilisten gibt es aus Sicht vieler Kriegsparteien, insbesondere des Regimes, gar nicht."

In anderen syrischen Städten – zum Beispiel in Homs – hat das Regime von Machthaber Baschar al-Assad diese Strategie schon umgesetzt. Sicherheit wird es für die Bewohner Aleppos also nicht geben, selbst wenn die Kämpfe zwischen den Bürgerkriegsparteien zunächst enden sollten. Auch Menschen, die in ihre ausgebombten Häuser zurückkehren und sie wieder aufbauen wollen, könnten vor Problemen stehen. "In weiten Teilen Syriens, gerade in mehrheitlich sunnitischen Stadtvierteln, gibt es keine Dokumente über den eigenen Grundbesitz", erklärt Daniel Gerlach.

Fünf Jahre Bürgerkrieg

Seit fünf Jahren tobt der Bürgerkrieg inzwischen. Und der Schrecken nimmt für die Menschen kein Ende. Lange Zeit hatten die Rebellen der syrischen Opposition die Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Aleppo gehalten, seit vergangenem August haben die Regierungstruppen aber immer grössere Teile unter ihre Kontrolle gebracht und einen Ring um den Osten der Stadt gezogen. Viele Familien mussten bereits mehrfach fliehen. Zu Armut, Obdachlosigkeit und mangelnder Ernährung kommt derzeit ein weiteres Problem: der Winter. Auch an Heizmaterial und Kleidung mangele es, berichtet UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Die Jüngsten leiden besonders unter dem nicht enden wollenden Konflikt. Kleinkinder kennen ihr Land nur im Bürgerkrieg.

"Fast einer halbe Million Kindern in 16 belagerten Städten wird seit Monaten jegliche humanitäre Hilfe verwehrt", schreibt Hanaa Singer, Leiterin von UNICEF Syrien, in einer Pressemitteilung. Das Kinderhilfswerk schätzt, dass Minderjährige mindestens die Hälfte der Menschen ausmachen, die in den vergangenen zwei Wochen in Aleppo obdachlos geworden sind. Die Helfer werden vor Ort offenbar Zeugen von drastischen Schicksalen. So berichtet UNICEF vom erst zehnjährigen Ahmed, der zusammen mit seinen vier Geschwistern in einem der Flüchtlingscamps von Jibrin Zuflucht gesucht habe, östlich der Stadtgrenze von Aleppo. Die fünf Kinder waren völlig auf sich allein gestellt: Beide Eltern waren zuvor ums Leben gekommen.

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