Publizist Jürgen Todenhöfer war bei der Terror-Miliz Islamischer Staat und interviewte im Dezember den deutschen Dschihadisten Abu Qatadah (Christan Emde). Ein heikles Unterfangen für den ehemaligen Politiker, das in Deutschland auf Zustimmung stösst, aber auch Kritik hervorruft. Im Interview verrät der ehemalige Politiker, wie es war, mit dem IS-Mitglied zu sprechen, weshalb sich Abu Qatadah radikalisierte und welche Gefahr vom IS für Deutschland ausgeht.

Mehr aktuelle News

Herr Todenhöfer, wie kamen Sie in Kontakt mit dem deutschen Dschihadisten Abu Qatadah?

Jürgen Todenhöfer: Ich habe 80 Dschihadisten auf Facebook angeschrieben beziehungsweise anschreiben lassen. 15 von ihnen haben mir geantwortet. Zwei davon kristallisierten sich als mögliche Gesprächspartner heraus. Allerdings war nur einer von ihnen autorisiert, für den IS zu sprechen. Das war Abu Qatadah.

Wie lange vor Ihrer Reise und dem jetzt veröffentlichten Interview hatten Sie schon Kontakt zu Abu Qatadah?

Ich habe über Monate stundenlange Gespräche geführt über die Massaker und die ideologischen Vorstellungen des IS, über ihre Moral. Und ich wollte auch seine Motivation verstehen, warum er sich dem IS angeschlossen hat. Wir haben sehr kontrovers diskutiert. Irgendwann habe ich wegen eines Besuchs des Islamischen Staates nachgefragt und dafür die Genehmigung bekommen. Ich erhielt eine ausführliche Garantie des Kalifen, dass mir nichts geschehen werde.

Und der haben Sie einfach so vertraut?

Natürlich nicht. Das Problem war, dass ich nicht wusste, wie authentisch diese Garantie wirklich war. Die hätte auch jemand anderes geschrieben haben können. Aber in den sieben Monaten, in denen ich mit dem IS Kontakt hatte, habe ich den Eindruck bekommen, dass es denen nicht darum ging, mir den Kopf abzuschlagen.

Abu Qatadah war zunächst Protestant. Konnten Sie herausfinden, weshalb er konvertiert ist und sich dem IS angeschlossen hat?

Ich habe viele Gespräche mit ihm und auch mit Familienangehörigen geführt. Es hat sich gezeigt, dass Abu Qatadah als Kind ein grosser Gerechtigkeitsfanatiker war. Er setzte sich unter anderem für einen muslimischen Mitschüler ein. Die Konsequenz war, dass er von der Schule flog. Solche Situationen gab es in seinem Leben häufig. In Deutschland wurde er oft enttäuscht, sagt er. Man hat die Moschee geschlossen, in die er ging, und man hat ihm wohl häufig Schwierigkeiten gemacht.

Und im Islam hat er dann seine Berufung gefunden?

Ja, und zwar in einer Interpretation, die als sehr radikal-extremistisch gilt.

Abu Qatadah ist in Europa kein unbeschriebenes Blatt. Er gehörte der Solinger Salafisten-Szene an. In London wurde er vor vier Jahren festgenommen, nachdem man bei ihm Bombenbauanleitungen gefunden hatten. Er wurde daraufhin zu 16 Monaten Haft verurteilt. Wie verargumentiert er das?

Seine Festnahme in London empfindet er heute noch als Ungerechtigkeit. Die Anleitungen, die man bei ihm fand, hätte man überall im Internet finden können, so seine Argumentation.

Wie haben Sie das Interview mit ihm erlebt?

Abu Qatadah musste sich sehr konzentrieren. Ich habe ihm ganz konkrete Fragen gestellt. Er ist ihnen nicht ausgewichen. Er war sich bewusst, dass das Interview in der ganzen Welt ausgestrahlt und zuvor vom IS zensiert würde. Mir ging es darum, möglichst viel von ihm zu erfahren und Informationen zu bekommen; nicht darum, meine Meinung zu äussern.

Wie haben Sie die bewaffneten, vermummten IS-Männer beim Interview wahrgenommen?

Das waren zwei von den etwa 400 IS-Kämpfern, die im Juni vergangenen Jahres Mossul erobert und dabei zirka 25.000 bis 30.000 Soldaten der irakischen Armee in die Flucht geschlagen hatten. Man merkte, dass sie Abu Qatadah ganz toll fanden. Sie haben ihm alle Zeichen der Ehrerbietung gemacht. Mir haben sie zu verstehen gegeben, dass man mir eigentlich die Kehle durchschneiden sollte. Sie haben sich auch geweigert, mir die Hand zu geben.

Hatten Sie in Mossul auch die Möglichkeit, mit Zivilisten zu sprechen?

Ich habe festgestellt, dass sich das Leben in Mossul zwar verändert hat. Und trotzdem fast normal erscheint. Wie in den meisten totalitären Staaten. Früher war die Stadt multi-religiös. Heute gibt es dort nur noch Sunniten. Der IS hat regelrecht Jagd auf Schiiten gemacht. Sie wurden vertrieben oder umgebracht. Ich konnte mich in der Stadt bewegen, aber es waren immer Kämpfer in meiner Nähe. Dennoch ist es mir gelungen, mit Zivilisten zu sprechen. Nur gefährliche Sachen sagen die Leute dort auch nicht. Sie sind sehr vorsichtig, aber sie unterstützen den IS - letztlich als das kleinere Übel gegenüber der schiitischen Maliki-Regierung, die sie jahrelang unterdrückt hat.

Im Video sagt der Dschihadist, dass auch Deutschland im Visier des IS ist. Hat er mit Ihnen darüber auch privat gesprochen?

Abu Qatadah hält nicht die Rückkehrer für die Hauptgefahr für die Deutschen. In den Augen des IS haben die es nicht geschafft. Mit den Syrien-Rückkehrern befindet sich der IS meist im Konflikt. Allerdings schlägt er Anschläge von Rückkehrern nicht aus. Wie der Anschlag eines Franzosen in Belgien gezeigt hat. Aus den Gesprächen mit ihm habe ich geschlussfolgert, dass vor allem die IS-Sympathisanten eine Bedrohung sind, die sich gerade auf dem Absprung nach Syrien befinden und noch ein sogenanntes "Ding drehen wollen". Das ist offenbar die grössere potenzielle Gefahr.

Glauben Sie ihm das? Geht von Rückkehrern wirklich weniger Gefahr aus?

Alles ist möglich. Aber die Hauptgefahr sind sie angeblich nicht.

Abu Qatadah zieht in Ihrem Video einen kruden Vergleich zu Hitler. Was hat der IS in Deutschland konkret vor?

Ziel des IS ist es, letztlich die ganze Welt zu erobern. Abu Qatadah sagt, dass deshalb auch Deutschland eines Tages angegriffen wird. Meines Erachtens meint er damit aber nicht mögliche Terroranschläge, sondern den Einmarsch. Wahrscheinlich erst nach einer Eroberung des Mittleren Ostens. Das kann also noch dauern. Dabei zieht er den schrägen Vergleich mit Hitler heran. Da marschiert mal der eine in das Land des Gegners und umgekehrt. Für dieses Szenario gibt sich der IS wohl noch Jahrzehnte Zeit.

Worin besteht die grösste Gefahr für Deutschland?

Was den IS sicherlich freut, sind Bewegungen wie Pegida. Ein Szenario, in dem der IS in Deutschland oder Europa aktiv werden kann, könnte aus bürgerkriegsähnlichen Situationen entstehen. Und da besteht von Seiten des IS die Hoffnung, dass Pegida das so hochschaukelt, dass es Anschläge gegen Muslime und dann zu Gegenanschlägen kommt. Und deswegen begrüssen die Dschihadisten Organisationen wie Pegida.

Was ist Ihrer Meinung nach generell die grösste Gefahr, die vom IS ausgeht?

Die gefährliche, einfache Ideologie, die es schafft so viel Euphorie und Überzeugung unter den IS-Anhängern hervorzurufen und so viele neue zu begeistern. Wenn der IS den mittleren Osten komplett erobert, dann ist der Weltfrieden in Gefahr. Dann wird die Miliz enormen Zustrom aus aller Welt bekommen. Das wird sich nach Indien ausbreiten, nach Pakistan. Dann gibt es noch einen ganz wesentlichen Aspekt, der mir grosse Sorge bereitet: der religiöse Säuberungsgedanke des IS. Demnach sollen Andersgläubige wie Jesiden, Schiiten oder Hindus zu Hunderten Millionen getötet werden. Das hat mit Islam nichts zu tun.

Was raten Sie den Deutschen?

Wichtig ist, und das machen die Deutschen eigentlich zur Zeit sehr gut, unsere Muslime zu integrieren. Die Gegendemonstrationen zu Pegida haben mich diesbezüglich positiv überrascht. Dass Deutsche für Muslime auf die Strasse gehen und in dieser Grössenordnung fand ich phänomenal. Und klug. Für den IS sind Muslime in demokratischen Systemen wie Deutschland Feinde, weil sie menschliche Gesetze über die Gesetze Gottes stellen. Die will der IS deshalb umbringen. Und so sind die Muslime, die in unserem Land leben, letztlich wichtige Verbündete gegen die Dschihadisten.

Jürgen Todenhöfer ist ein deutscher Publizist, Ex-Politiker und ehemaliger stellvertretende Burda-Vorstand. Der heute 74-Jährige profilierte sich als Kritiker der US-amerikanischen Interventionen im Irak und Afghanistan, reiste in Länder des arabischen Frühlings und sprach während des syrischen Aufstandes als einer der wenigen Journalisten mit dem Präsidenten Baschar al-Assad. Auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht er derzeit Interviews und Artikel zum Islamischen Staat. Sein letzter Post erreichte eine Reichweite von mehr als neun Millionen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.