An der Grenze zu Nordsyrien stehen Erdogans Truppen für eine türkische Militäroffensive bereit. US-Präsident Trump lässt die Kurdenmiliz im Stich, verkündet den Abzug seiner US-Soldaten und rudert nach Kritik mit verstörenden Tweets wieder zurück. Wer spielt welche Rolle in dem komplizierten Konflikt? Politikprofessor und US-Experte Thomas Jäger von der Universität zu Köln klärt auf.

Ein Interview

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Herr Professor Jäger, welche Rolle spielten die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in den vergangenen Jahren im türkisch-syrischen Grenzgebiet, vor allem im Kampf gegen den IS?

Professor Thomas Jäger: Die Kurden waren die amerikanischen Bodentruppen. Die USA haben unter dem damaligen Präsidenten Barack Obama beschlossen, nicht aktiv in den Syrien-Krieg einzugreifen. Durch die Unterstützung der YPG sind die USA in dem Konflikt aber engagiert geblieben, wenn auch nicht in dem Masse wie Russland, Iran und andere.

Haben die Kurden also die Drecksarbeit für die USA erledigt?

Ja. Und sie haben vor allem den Blutzoll gezahlt. Das ist für das kurdische Bewusstsein des Verrats, den die USA hier begehen, die viel wichtigere Tatsache. Die Zahlen schwanken zwar, aber es ist die Rede von bis zu 20.000 Kämpfern der YPG, die dort ums Leben gekommen sind. Sowohl Obama als auch der jetzige Präsident Donald Trump halten den Kampf in der Region für ein mittelalterliches Gemetzel, für einen Konflikt, in dem die USA nichts zu suchen haben. Die US-Sicherheitspolitiker haben dann darauf hingewiesen, dass man diese Region nicht Russland und dem Iran überlassen könne.

Wie erfolgreich waren die YPG im Kampf gegen den Islamischen Staat?

Sie waren von enormer Bedeutung. Der IS war in Syrien kurz davor, ein konsolidiertes Territorium zu beherrschen, mit eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Es gab zahlreiche Kämpfer, die dort hingereist sind, um am Aufbau dieses Staates mitzuarbeiten. Das ging so weit, dass einige Analysten damals sogar empfohlen haben, das Kalifat anzuerkennen, weil der Sturz Assads bevorstand und der IS als militärisch nicht zu besiegen galt. Laut Trump ist der IS nun militärisch zu 100 Prozent besiegt. Etwas klügere Stimmen weisen darauf hin, dass der IS zwar das Territorium nicht mehr beherrscht, aber in den Köpfen der vielen tausend Gefangenen natürlich weiterlebt und andere Kampfformen annehmen kann.

Was bedeutet der Rückzug der US-Truppen aus dem Gebiet konkret?

Bislang ist nur eine kleine Anzahl amerikanischer Soldaten aus zwei Tälern abgezogen, der Grossteil der rund 1.000 Mann starken Truppe ist noch vor Ort. Aber die Ankündigung allein hat zu einem Aufschrei in den Vereinigten Staaten geführt. Überparteilich herrscht die Meinung vor: Der Präsident verrät unsere Verbündeten, beschädigt Amerikas Ruf und stellt die internationale Führungsfähigkeit der USA in Frage.

Wird Trump also wieder zurückrudern?

Das schliesse ich nicht aus. Bereits zu Beginn des Jahres hatte er angekündigt, die Truppen aus Syrien abzuziehen. Damals trat aus Protest sein damaliger Verteidigungsminister James Mattis zurück, weil er diese Entscheidung nicht mittragen wollte. Damals hat sich Trump dem Druck gebeugt. Jetzt steckt er in der Klemme.

Warum?

Seine Wähler haben ihm den Auftrag gegeben: "Beende den Krieg, hol uns da raus." Die Repräsentanten in Washington aber, auf die er auch angewiesen ist, haben in dem Punkt eine dezidiert andere Ansicht.

Was ist Trumps Strategie?

Er hat keine. Es ist ihm ernst mit dem Ziel, die Truppen aus diesem Konfliktgebiet zu holen, aber er hat keinen Weg dorthin. Er müsste entweder akzeptieren, dass Russland und Iran daraus politische Vorteile ziehen - das würde er aber nie so sagen. Oder er müsste Truppen haben, die die amerikanischen ersetzen – und die gibt es nicht.

Warum hat Trump dann überhaupt den Truppenabzug angekündigt?

Weil er in dem Telefonat mit Erdogan einfach nicht wusste, was er macht. Das ist bei Trump ja häufiger der Fall. Er ist nicht vorbereitet, hat die Komplexität der Zusammenhänge nicht im Kopf. Das einzige, was ihn antreibt, ist die Frage: Wie werde ich wiedergewählt? Wie das jetzt ausgeht, muss man abwarten. Neben seiner Unkenntnis zeichnet ihn vor allem seine Sprunghaftigkeit aus.

Was verbindet Trump und Erdogan?

Freundlich ausgedrückt: ein hohes Ansehen ihrer eigenen Persönlichkeit. Ansonsten gibt es in den amerikanisch-türkischen Beziehungen aber grosse Spannungen, wenn Sie an den nicht ausgelieferten Fethullah Gülen denken, an die Inhaftierung des US-Pastors Andrew Brunson oder an die Flugabwehrraketen, die die Türkei von Russland gekauft hat. Sie sind also nicht beste Kumpel, sondern Brüder im Geiste, insofern sie sich beide selbst für einen hemdsärmeligen, anpackenden Staatschef halten, der ohne Rücksichtnahme machen kann, was er will.

Warum hat Trump dann Erdogans Militäroffensive abgenickt?

Es ist strittig, ob Trump Erdogan bei dem Telefonat tatsächlich grünes Licht für den Einmarsch gegeben hat. Man könnte das annehmen, da Trump ja den Abzug der US-Truppen angekündigt hat. Es könnte aber auch sein, dass Trump nur nicht widersprochen hat. Möglicherweise haben ihn seine Berater nach dem Ende des Telefonats aufgeklärt, was seine Entscheidung überhaupt bedeutet. Schliesslich hat er kurze Zeit später einen der verstörendsten Tweets überhaupt abgesetzt, wo er mit der Zerstörung der türkischen Wirtschaft droht.

Und aus welchen Motiven heraus handelt Erdogan?

Er handelt aus innenpolitischem Druck heraus. Er ist von anfänglicher Annäherung auf Konfrontation zu den Kurden umgeschwenkt, um seine Wähler bei der Stange zu halten. Die Kurden-Frage, also die Autonomie für die Kurden so weit wie möglich zu beschränken, ist für Erdogan eines seiner grössten geopolitischen Projekte. Und das teilt er mit allen türkisch-nationalen Kräften.

Was steckt hinter der türkischen Militäroffensive?

Die Türkei hat ein enormes Interesse daran, in Syrien eine "Sicherheitszone" zu schaffen. Ihr geht es darum, den territorial geschlossenen Siedlungsraum über Syrien, die Türkei und den Irak zu unterbrechen, die Kurden also zu vertreiben und dort Menschen anderer ethnischer Herkunft anzusiedeln. Dabei handelt es sich genau um die Flüchtlinge, die jetzt in der Türkei sind. Die gesamte Syrienpolitik der Türkei ist nur darauf ausgerichtet zu verhindern, dass es irgendwann zu einer politischen Selbstständigkeit der Kurden kommt.

Aus Europa hört man verdächtig wenig zu der ganzen Krise. Warum?

Das liegt daran, dass es die Europäer verpasst haben, sich eigene Handlungsalternativen zu überlegen. Weder stellen sie – in den Augen der Amerikaner - ausreichende Mittel für ihr Militär zur Verfügung. Noch nehmen sie die aus Europa stammenden IS-Kämpfer zurück. Es fehlen also die entsprechenden Hebel, um Forderungen an die USA zu stellen, in Syrien zu bleiben.

Und Erdogan bleibt verschont, weil er mit dem Flüchtlingspakt die Europäer in der Hand hat?

Ja, das ist gewissermassen der "Elefant im Raum", also ein offensichtliches Problem, das von den Anwesenden nicht angesprochen wird, wenn es aus europäischer Sicht um Sicherheit in Syrien geht. Durch neue Kriegshandlungen könnte eine weitere Flüchtlingswelle nach der ersten von 2015 losgetreten werden. Die EU hat es in den vier zurückliegenden Jahren nicht geschafft, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik aufzubauen. Darum hat Erdogan alle Trümpfe in der Hand und mit den Europäern leichtes Spiel.

Und welche Rolle spielt Russland in dem Konflikt?

Russland hat den Syrien-Konflikt genutzt, um sich wieder als militärische Grossmacht in internationalen Konflikten zu etablieren. Wladimir Putin hat in Syrien eingegriffen und dafür gesorgt, dass Assad sich seine verlorene Macht zurückholen konnte. Dadurch hat Russland einen diplomatischen Gewinn gezogen – mit engen Beziehungen zum Iran, zu Saudi-Arabien, zu Israel. Russlands Interesse lautet: Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsstrukturen. Die Türkei kann sich also nur wenig Unterstützung von Russland erhoffen.

Thomas Jäger ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Aussenpolitik an der Universität zu Köln und u.a. Herausgeber der Zeitschrift für Aussen- und Sicherheitspolitik. Der Titel seines aktuellen Essays lautet "Das Ende des amerikanischen Zeitalters: Deutschland und die neue Weltordnung".
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