Syrien steht vor einer Zeitenwende. 25 Jahre Schreckensherrschaft von Diktator Baschar al-Assad sind wohl zu Ende. Aber was kommt jetzt?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

In Syrien überschlagen sich die Ereignisse: Nach Berichten über schnelle militärische Erfolge islamistischer Rebellen um Hayat Tahrir al-Sham (HTS), soll Diktator Baschar al-Assad die Hauptstadt Damaskus bereits per Flugzeug verlassen haben und Premierminister Mohammed al-Dschalali ist offenbar zu einer friedlichen Machtübergabe bereit. Laut dem Sender "Al-Arabija" habe er mit dem HTS-Kommandanten Abu Muhammed al-Dschaulani zur Koordination einer Übergangsperiode in Kontakt gestanden.

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Seit dem Waffenstillstand in Syrien im März 2020 im Zuge des sogenannten Astana-Prozesses – einem Gesprächsformat zwischen der Türkei, Russland und dem Iran – war es in der öffentlichen Debatte um den Konflikt in Syrien ruhig geworden. Der nun Ex-Machthaber Baschar Al-Assad hatte das Land nahezu vollständig – mit Ausnahme von Idlib im Nordwesten, einigen von der Türkei protegierten Gebieten im Norden und einer Region östlich des Euphrats – unter Kontrolle.

Sascha Ruppert-Karakas, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München weist im Gespräch mit unserer Redaktion darauf hin, dass es ein Trugschluss gewesen sei, davon auszugehen, der Krieg sei mit dem Astana Prozess beigelegt worden: "Er war eben in deutschen Medien nicht mehr präsent.

Aber im Protokoll ging es nur um die Interessen der protegierenden Nationalstaaten. Die Interessen der syrischen Bürger haben keine Rolle gespielt. Man spricht in der Forschung auch von einem illiberalen Frieden", erklärt Ruppert-Karakas.

Zum Experten-Gespräch

  • Der Autor führte das Gespräch mit dem Experten, Sascha Ruppert-Karakas, bereits vor den aktuellen Ereignissen in Syrien. Eine letzte Einschätzung gab Ruppert-Karakas am Sonntag, um 10 Uhr, ab. Bei der dynamischen Lage in dem Land können manche Aussagen bereits überholt sein, wenn der Text veröffentlicht wird.

Die blutige Bilanz des autoritären Gewalt-Regimes Assads

Der syrische Bürgerkrieg hatte im Zuge des "Arabischen Frühlings" im Jahr 2011 begonnen. Die Demonstrationen für Menschenwürde, Freiheit und wirtschaftliche Perspektiven waren vom Assad-Regime mit brutaler Gewalt beantwortet worden, die durch die Behauptung, es handle sich um ausländische Verschwörer und radikalislamistische Terroristen, legitimiert wurde.

Erst durch die Unterstützung der Hisbollah-Miliz aus dem Libanon und den iranischen Revolutionsgarden ab 2013 sowie der entscheidenden Intervention Russlands Ende 2015 konnte sich Assad an der Macht halten.

Das blutige Ergebnis dieser autoritären Widerstandsfähigkeit seit März 2011: Über 500.000 tote Syrer, wovon laut offizieller Zählung von Menschenrechtsorganisationen wie dem Syrian Network for Human Rights über 200.000 zivile Todesopfer auf das Konto des Assad Regimes gehen und etwa 112.000 immer noch in den Kerkern des Regimes als vermisst gelten.

Experte erklärt: Das ist die islamistische Rebellenorganisation HTS

Der seit dem Scheinfrieden vergessene Konflikt hat laut Ruppert-Karakas in den letzten drei Jahren im Besonderen im Nordwesten Syriens wöchentlich zahlreiche zivile Opfer nach sich gezogen. "Deshalb ist auch die Offensive, die wir beobachteten, als unmittelbare Reaktion auf diesen Dauerbeschuss zu interpretieren.

Sie wird von mehreren Rebellengruppen getragen, vorrangig aber von HTS, und nutzt die Schwäche der Verbündeten Assads. Russland ist in der Ukraine gebunden und die Hisbollah nach dem Konflikt mit Israel ebenfalls geschwächt", erklärt der Politik-Experte.

HTS sei eine autoritäre und islamistische Gruppierung. "Sie ist aber nicht mit Al-Qaida oder dem Islamischen Staat gleichzusetzen, mit denen sie im Konflikt stehen. Sie haben sich in den letzten fünf Jahren einen neuen Anstrich gegeben, sich vom internationalen Jihadismus abgewendet, einen Fokus auf lokales State-Building gelegt und geben sich pragmatischer", so Ruppert-Karakas.

Als "jihadistisch" werden Gruppierungen bezeichnet, die den heiligen Krieg (Jihad) gegen alle Ungläubigen als internationalen und ideologischen Konflikt verstehen, der erst mit der Niederlage aller Ungläubigen endet.

Hoffnung für Syrien? HTS setzt bislang auf ein inklusives Narrativ

HTS dürfe aber nicht als liberale Bewegung missverstanden werden. Gleichermassen sei ihre Zusammensetzung heterogen und die Beweggründe reichten von regionaler Verbundenheit über persönliche Rache bis hin zum ideologischen Islamismus.

In der offiziellen Kommunikation setze HTS bislang auf ein inklusives Narrativ, das den respektvollen Umgang mit religiösen Minderheiten postuliert. "Bei all dieser Wandlung in den letzten Jahren sollten wir jedoch nicht vergessen, dass HTS in den führen 2010er Jahren eine sehr unrühmliche Vergangenheit als Gewaltakteur gegenüber religiösen Minderheiten und Oppositionellen hatte", erinnert der Politikwissenschaftler.

Wenn man HTS und Assad vergleiche, stelle sich für viele Syrer letztlich die Frage, wer das kleinere Übel für die Zukunft sei. "Hier muss man sagen, dass die Fluchtbewegungen Bände sprechen: Die Geflüchteten aus dem Libanon aber auch anderen Teilen Syriens haben Schutz in den Oppositionsgebieten gesucht – nicht in Assads Herrschaftsgebiet."

Die Frage der deutschen Öffentlichkeit: Kommen nun wieder mehr Geflüchtete nach Deutschland?

In der deutschen Debatte stellt sich angesichts solcher Entwicklungen mit Rückblick auf das Jahr 2015 stets die Frage, wie es sich mit der Ankunft neuer Geflüchteter verhält. Doch die Fluchtrouten sind nicht offen: "Griechenland, der Balkan, die Türkei, alle haben ihre Grenzen dicht gemacht. Gerade die Türkei will derzeit syrische Geflüchtete zurückschicken und das könnte mit einer sich staatsmännisch gebenden HTS vielleicht sogar besser gelingen." Für diejenigen, die trotzdem flüchten, bleibe nur die gefährliche Route über das Mittelmeer, auf der viele Menschen ertrinken würden.

Je nach Weiterentwicklung der Lage und des Vorgehens der HTS gegen Minderheiten, könnte es aber zur Aufnahme von Minderheiten durch Europäische Staaten kommen, so Ruppert-Karakas: "Wenn beispielsweise Christen fliehen, kann es sein, dass Europa diese aufnimmt. Aber hier muss man genau hinschauen: Unter diesen besteht die Möglichkeit, dass es sich um Assad-Loyalisten handelt, die sich schweren Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben."

Aufstieg von HTS: Welche Rolle spielte die Türkei?

Und auch der Aufstieg von HTS ist kein Grund zu allgemeiner Beruhigung, als die von Beobachtern wie Alexander Clarkson vom King’s College London festgestellte Dynamik in der Organisation der vergangener autoritärer Bewegungen ähnele.

Laut Ruppert-Karakas müsse man sich vergegenwärtigen, dass in Syrien seit über 14 Jahren permanent Gewalt herrsche und daher die Vorstellung von liberalen oder demokratischen Kräften weit an der Realität vorbeigehe: "Eine ganze Generation ist im Krieg gross geworden. Und das hinterlässt eben Spuren."

Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg geht im Gespräch mit tagesschau.de davon aus, dass der Erfolg der HTS auch auf der Abstimmung mit der Türkei beruhe, weil das Rebellengebiet in Idlib im Nordwesten Syriens seit 2017 eine Art türkisches Protektorat gewesen sein.

Die türkische Duldung habe den Erfolg mitermöglicht und dabei auch dem kurzfristigen Interesse des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gedient. Hierbei gehe es um die Rücknahme syrischer Flüchtlinge und um einen längerfristigen Einfluss auf Nord-und Ostsyrien, in dem ein Ableger der türkischen PKK herrscht.

Sascha Ruppert-Karakas weist in diesem Kontext darauf hin, dass man auch die Agency der Akteure vor Ort nicht verkennen dürfe. Diese seien selbstverständlich nicht einfach nur Figuren in einem Schachspiel grosser Mächte.

Der HTS-Führer al-Dschaulani habe bereits klargestellt, kein Spielball der Türkei zu sein, auch wenn sich die HTS in der Vergangenheit in vielen Situationen mit der Türkei koordinierte. Das bestätigt auch der Nahost-Experte Daniel Gerlach bei DW-News.

Syrien-Experte erklärt schnellen Fall des Regimes: Nicht alle Alawiten waren Assad-Loyalisten

Der erfolgreiche Vorstoss der Rebellen um HTS hat laut einem Bericht der New York Times unter den Truppen von Präsident Baschar al-Assad grosse Verwirrung ausgelöst. Nach dem Fall von Hama am Freitag und dem Bericht der New York Times über den Abzug iranischer Truppen stand die Zukunft des Assad-Regimes bereits in Frage, wie der Direktor der Programme Syrien und Terrorismus- und Extremismusbekämpfung des Middle East Intitute, Charles Lister, auf X erklärt.

Den Analysen Listers stimmt auch Ruppert-Karakas zu: "Um den schnellen Fall des Assad-Regimes besser zu verstehen, ist die Stadt Homs interessant."

Dort gebe es viele loyalistische Alawiten-Enklaven: "Die dortigen Communities waren aber offenbar nicht mehr bereit, eine weitere Generation für Assad zu opfern", so Ruppert-Karakas. Man dürfe nicht vergessen, dass nicht alle Alawiten loyal zum Assad-Clan standen und dementsprechend auch nicht alle vom Regime profitierten.

Wie geht es nach dem Fall von Damaskus weiter?

Der vergleichsweise schnelle Fall der Hauptstadt Damaskus ist laut Ruppert-Karakas besonders interessant, als sich dort Militär und Geheimdienst eingegraben hatten, um das Entstehen von Rebellenenklaven zu verhindern, wie sie in der Stadt Daraa entstanden waren.

Doch Daraa fiel aufgrund von Widerstand in der Stadt auch an die Rebellen. Die Aussöhnung der dortigen Bevölkerung mit Assad war eben nur eine autoritäre erzwungene gewesen. "Und der wohl nun bestätigte Fall von Homs führte dazu, dass Damaskus und die Küste abgeschnitten waren und die Lage für Assad und seine loyalistischen Kreise in Latakia immer schwieriger wurde."

Langfristig müsse man nun sehen, wie sich die Dynamik zwischen HTS, den Syrian Democratic Forces (SDF) und der Syrischen Nationalen Armee (SNA) entwickle. "Während die SNA bei vielen Syrern einen schlechten Ruf hat, da diese massgeblich von der Türkei gesteuert werden, hat HTS die revolutionäre Symbolik aus den 2011er Jahren adaptiert und führt damit gerade den Kampf um eine nationale Renovierung Syriens." Das Verhältnis zwischen HTS und SDF sei seit der Offensive von einer vorläufigen Kooperation und einem Waffenstillstand geprägt.

"Al-Dschaulani verspricht auch den Kurden, in Zukunft vollwertige Bürger Syriens zu werden. Torpediert wird das ganze jedoch derzeit durch die SNA, die gezielt Angriffe in Manbidsch gegen die dortigen SDF-Milizen durchführt", erklärt der Experte die nach wie vor komplexe Gemengelage.

Welche Rolle spielen internationale Akteure – und was will Donald Trump?

Die zentrale Frage der innersyrischen Entwicklung dreht sich nun jedoch um die Nachfolge Assads: "Es gibt vermehrt Gerüchte darüber, dass diverse internationale Akteure dem Regime einen Weg in eine Übergangsregierung vorschlagen wollen, die unter dem ehemaligen Premierminister zustande kommen soll." Die letzte Verhandlungsrunde der Astana-Partner am Wochenende habe gezeigt, dass für Assad dabei kein Platz am Verhandlungstisch vorgesehen sei.

Mit Blick auf die Interessen der USA lässt sich zwar konstatieren, dass Donald Trump die USA aus dem Konflikt heraushalten will. Doch der exzentrische und unberechenbare Präsident könnte laut Charles Lister in Syrien die Gelegenheit wittern, für relativ wenig Geld einen aussenpolitischen Erfolg zu markieren.

Dem stimmt auch Ruppert-Karakas zu: "Wenn Trump die Transaktionskosten lohnenswert erscheinen, könnte es durchaus sein, dass er die amerikanischen Boots on the Ground doch nicht abzieht, um so langfristig die Lage in Syrien mitzubestimmen."

Abgesehen von Trump spielen die lange Planung und die diplomatischen Bemühungen der HTS eine entscheidende Rolle für die Zukunft Syriens, die von friedlicher und inklusiver Kommunikation geprägt sind.

Es kursieren bereits Videos von einem friedlichen Geleit für den Premierminister. Diese Bemühung diplomatischer Kanäle gibt Anlass zur Hoffnung, dass die syrischen Bürger nach über 14 Jahren Gewaltherrschaft zumindest etwas aufatmen dürfen, und vielleicht sogar eine Möglichkeit erhalten, durch eine gezielte Aufarbeitung der Gräueltaten des Assad-Regimes einen Hauch von Gerechtigkeit zu erfahren.

Über den Experten:

  • Sascha Ruppert-Karakas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie des Geschwister-Scholl-Instituts für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er blickt auf eine 10-jährige empirische Forschung zum Autoritarismus und dem daraus resultierenden Gewaltkonflikt in Syrien zurückblicken.
  • Zuletzt erschien seine Dissertation im Verlag Duncker & Humblot unter dem Titel „Die Politik des Antagonismus: Zur Dynamik autoritärer Lebenswelt in Assads Syrien“, die anhand der politischen Theorie Carl Schmitts eine diskursanalytische Untersuchung der Denkstrukturen und Funktionslogiken der autoritären Lebenswelt in Assads Syrien vornimmt.

Verwendete Quellen:

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