Der UN-Sicherheitsrat ist in der Syrien-Frage gelähmt. Weil Russland sein Veto gegen Resolutionen für ein Ende des Bombardements von Aleppo einlegt, muss das Gremium dem Sterben in der syrischen Stadt seit Monaten tatenlos zusehen. Im Sicherheitsrat hatten sich deshalb über die vergangenen Wochen Spannungen aufgebaut, die sich nun in einem Eklat nach einer erschütternden Rede entluden.

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Appelle zur Beendigung des Blutvergiessens in Syrien gab es schon viele, nicht wenige waren in dramatischer Eindringlichkeit formuliert.

Doch nie zuvor hat jemand das Grauen von Aleppo und die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrates in einer solch emotionalen Schärfe beschrieben und verurteilt wie nun Stephen O'Brien, Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen. Und nie zuvor hatte es von russischer Seite eine solch brüskierende Antwort auf die Kritik gegeben wie jene von Witali Tschurkin, russischer Botschafter bei der UN.

O'Brien hatte bei seiner Rede erklärt, er "glühe mittlerweile vor Wut" angesichts der Passivität des Sicherheitsrates im Umgang mit dem Sterben in Aleppo. Entsprechend ergreifend, emotional und eindringlich fiel der Appell des Briten aus.

"Gestank von Urin und Erbrochenem"

"Ich nehme Sie heute Nachmittag mit auf einen Abstecher in den Osten von Aleppo", eröffnete O'Brien seine Rede. "In ein tiefes Kellerloch, aneinandergedrängt mit ihren Kindern und Grosseltern. Der Gestank von Urin und Erbrochenem, Ergebnis unbändiger Angst, setzt sich in Ihrer Nase fest. Sie warten auf die bunkerbrechende Bombe, die Sie hier drin töten wird, in Ihrem letzten Unterschlupf, ähnlich dem Ihres Nachbarn, der gestern Nacht darin getötet wurde."

O'Brien schilderte weitere Situationen, die seit Monaten für die in Aleppo eingeschlossenen Menschen tödlicher Alltag sind. Er forderte die Mitglieder auf sich vorzustellen, wie sie mit blossen Händen und voller Verzweiflung im Betonschutt nach ihren schreienden Kindern suchen würden. "Dabei müssen Sie ständig würgen, weil Ihnen der giftige Staub den Atem raubt. Der Geruch von Gas ist allgegenwärtig, jederzeit kann die Luft um Sie herum explodieren."

Diese Menschen, mahnt O'Brien, "sind wie Sie und ich". Mit dem Unterschied, dass die Menschen von Aleppo "nicht um einen Tisch in New York herumsitzen, sondern in Verzweiflung und mitleidloses Leid gezwungen werden und ihre Zukunft ausgelöscht wird".

All das Grauen, erklärt der 59-Jährige wütend, geschehe unter den Augen des Weltsicherheitsrates. "Es kann beendet werden", so O'Brien. "Aber Sie, der Sicherheitsrat, müssen sich dazu entscheiden, es zu stoppen." Schliesslich wurde genau diesem Gremium die Verantwortung übertragen, ein solches Grauen zu beenden.

O'Brien: Weltsicherheitsrat belegt sich mit Schande

"Sie alle wissen, was dort los ist - tragischerweise wissen Sie es sogar ganz genau", kritisiert O'Brien. Die Frage sei deshalb: "Was beabsichtigen Sie dagegen zu tun?"

Wenn der Sicherheitsrat weiterhin nicht handle, "wird es kein syrisches Volk und kein Syrien mehr geben, das Sie retten können", erklärte er und warnte die Mitglieder des Sicherheitsrates vor den historischen Folgen: "Das wäre dann das Erbe dieses Sicherheitsrates, eine Schande für unsere Generation."

Der Brite ging bei seiner Abrechnung auch mit den in Aleppo verschanzten Rebellen hart ins Gericht. Bei ihren Angriffen im Westen der Stadt seien mindestens 100 Menschen getötet worden, darunter 17 Frauen und 22 Kinder. Über 500 seien verletzt worden.

O'Brien betonte, dass die massiven Bombardements durch Russland und das Assad-Regime auf den Osten der Stadt noch fatalere Konsequenzen hätten. Er bezeichnete Aleppo als "Todeszone" in der "so viele, viel zu viele Kinder Opfer" seien.

Russlands UN-Botschafter Witali Tschurkin reagierte mit der brüsken Feststellung, O'Brien solle sich seine Ausführungen aufsparen "für den Roman, den Sie eines Tages schreiben werden". Die Schilderungen über die Zustände in Aleppo bezeichnete Tschurkin als "unfair und unwahr" und betonte: "Wenn ich mir eine Predigt anhören will, dann gehe ich in die Kirche!"

Dies sei keine schlechte Idee, lautete daraufhin der bissige Kommentar von Samantha Power, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. "Angesichts dessen, was gerade passiert, wäre es sinnvoll, wenn mehr Leute in die Kirche gehen würden."

Al-Kaida-Terrorist von Geburt an?

Power griff Tschurkin scharf an und fragte, ob Russlands Kampf gegen den Terror auch die geschätzt 100.000 Kinder im Osten Aleppos einbeziehen würde. "Läuft das so ab? Man kommt aus der Gebärmutter und ist ein Al-Kaida-Mitglied?" Power präsentierte zudem ein Flugblatt, das Russland und das syrische Regime in grosser Stückzahl über Aleppo abgeworfen haben sollen.

Das Papier enthält eine eindringliche Drohung: "Dies ist Eure letzte Chance. Rettet Euch selbst. Falls Ihr dieses Gebiet nicht sofort verlasst, werdet Ihr vernichtet. Ihr wisst, dass Euch alle aufgegeben haben. Sie haben Euch alleingelassen. Ihr seid dem Untergang geweiht und niemand wird kommen und Euch helfen."

Mit Material für einen Roman hätten die Schilderungen O'Briens sowie die Botschaft des martialischen Flugblattes nichts zu tun, meinte Grossbritanniens UN-Botschafter Matthew Rycroft an die Adresse Tschurkins. All das basiere auf belegbaren Fakten. "Das Problem ist nur", so Rycroft, "es ist nicht die Art von Fakten, die Ihnen gefällt".

Erst am Mittwoch waren bei einem Luftangriff nahe einer Schule im nördlichen Syrien mindestens 35 Menschen getötet worden, darunter 22 Kinder und sechs Lehrer, teilte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) mit. Bei den Kindern handele es sich um Schüler, die Angriffe seien vermutlich von russischen Kampfflugzeugen ausgeführt worden, sagte der Leiter der Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman.

"Dies ist eine Tragödie. Es ist ein Skandal. Und, wenn vorsätzlich, ein Kriegsverbrechen", sagte Unicef-Direktor Anthony Lake in New York. Der Angriff sei möglicherweise die tödlichste Attacke auf eine Schule seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor mehr als fünf Jahren. Im UN-Sicherheitsrat wird man auch dieses Blutvergiessen ohnmächtig zur Kenntnis genommen haben.

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