Die russischen Luftangriffe zur Unterstützung des syrischen Diktators Baschar Al-Assad geben dem Bürgerkrieg in Syrien eine neue Wendung. Droht nun ein Flächenbrand im Nahen Osten? Ein baldiger Friede werde durch das Eingreifen Russlands jedenfalls "nicht wahrscheinlicher", sagt der Nahost-Experte Kristian Brakel.

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Das Assad-Regime, der Islamische Staat, die Freie Syrische Armee, die kurdischen Volksschutzeinheiten, die Al-Nusra-Front, die internationale Allianz im Kampf gegen den IS. Das ist nur eine Auswahl der im syrischen Bürgerkrieg beteiligten Parteien. Nun ist mit Russland ein weiterer Akteur dazugekommen – mit noch nicht absehbaren Folgen für die Dynamik des Konflikts. Der russische Präsident Wladimir Putin behauptet, er wolle durch die Unterstützung seines Verbündeten Baschar al-Assad eine Friedenslösung erzwingen. "Das wird die Region instabiler machen, es wird zu einer weiteren Radikalisierung und mehr Terror führen", ist dagegen der britische Premierminister David Cameron überzeugt. Vier Szenarien für die Zukunft des Landes.

Szenario 1: Alles bleibt wie es ist

Russland will dem syrischen Bürgerkrieg mit Luftangriffen gegen den Islamischen Staat die entscheidende Wende geben. Allerdings gehörten die meisten der angegriffenen Stellungen offenbar gar nicht dem IS, sondern anderen Rebellengruppen. Selbst falls sich das ändern sollte, sei es fraglich, "ob die Luftangriffe einen substantiellen Unterschied machen können", gibt Prof. Andreas Bock vom Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg zu bedenken. Die Folge: Alles bleibt wie es ist.

Auch die Bombenabwürfe der US-geführten Koalition haben dem IS bisher nicht den grossen Schlag verpasst. "Wenn der Konflikt auf diesem hohen Gewaltpotential eingefroren wird, wäre das auch ein Worst Case", betont der Politologe. "Grundsätzlich ist das, was sich in Syrien seit mehreren Jahren abspielt, an Grausamkeit kaum noch zu übertreffen", sagt der Nahostanalyst Kristian Brakel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.

Szenario 2: Der IS wird stärker
Rund 5000 russische Staatsbürger kämpfen auf Seiten des Islamischen Staats. Werden es nun noch mehr? "Die aktuelle Situation ist ideal für den IS. Das Eingreifen Russlands und die Reaktion mancher westlicher Staaten darauf, dass man Assad doch rehabilitieren müsste, treibt dem IS potentiell neue Rekruten zu", erklärt Islamwissenschaftler Brakel. Dies stärke die Ansicht, dass der Westen die Muslime an das Regime verrate, obwohl es für die meisten der bis zu 250.000 Bürgerkriegstoten verantwortlich gemacht wird. Ideales Futter für den professionellen Propaganda-Apparat der Dschihadisten.

Auch Selbstmordattentate in russischen Metropolen sind als Antwort auf die Militärintervention nicht ausgeschlossen. "Ob es eine Antwort des IS auf russischem Territorium geben wird", erklärt Syrien-Experte Bock, sei derzeit "schwer einzuschätzen". Wahrscheinlicher ist da schon, dass die Terror-Miliz mehr Geld von ihren Unterstützern in der Golfregion erhält – um gegen die Russen aufzurüsten.

Szenario 3: Nachbarländer werden destabilisiert

Millionen Syrer sind nach Jordanien und in den Libanon geflüchtet, zudem gibt es einen regen Austausch von Soldaten bzw. Rebellen zwischen den Nachbarstaaten – auch der Türkei – und Syrien. "Beide Staaten haben es unterschiedlich gut verstanden, sich mehr oder weniger vor den Auswirkungen des Krieges abzuschirmen. Der Libanon sicher schlechter als Jordanien", erklärt Kristian Brakel. Mit dem politisch instabilen Irak, dessen westlicher Landesteil vom Islamischen Staat besetzt wird, und Israel, das bei einem weiteren Erstarken des IS zum Handeln gezwungen werden könnte, gibt es zwei weitere vom Konflikt betroffene Parteien. Sollte auch in Syrien ein Machtvakuum wie im Irak entstehen, ist Andreas Bock überzeugt, "wird das nicht ohne Einfluss auf die Nachbarstaaten bleiben". Eine weitere Destabilisierung der Region ist möglich.

Szenario 4: USA und Russland führen einen Stellvertreter-Krieg

US-Präsident Barack Obama wies kürzlich im Weissen Haus die Einschätzung zurück, dass Washington sich mit Moskau in einem Stellvertreterkrieg befände. Die Realität sieht anders aus. Die USA unterstützen seit Jahren die sogenannte moderate syrische Opposition mit Waffen und Ausbildern, Russland und der Iran hingegen unterstützen Assad. "Allerdings hiessen die entscheidenden Parteien bisher nicht Russland und die USA, sondern Saudi Arabien und der Iran", wie Kristian Brakel betont.

Nun steigt die Gefahr, dass sich die Luftstreitkräfte der beiden Weltmächte in die Quere kommen könnten, etwa durch einen versehentlichen Angriff. "Die Möglichkeit einer Eskalation zwischen den USA und Russland besteht", sagt Andreas Bock, "aber ich würde sie nicht überbewerten."

Für die künftige Entwicklung im Syrien sei entscheidend, ob Russland wie angekündigt tatsächlich den IS bekämpft, oder doch vorwiegend gegen andere Rebellengruppierungen vorgeht – auch solche, die durch die USA unterstützt werden. Dass es in nächster Zeit zu Frieden in Syrien kommen wird, erklärt Nahost-Analyst Brakel, werde durch die russischen Luftangriffe "sicher nicht wahrscheinlicher".

Kristian Brakel ist Nahostanalyst bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Der Islamwissenschaftler war unter anderem als Berater des EU-Sonderbeauftragten für den Nahostfriedensprozess in Brüssel tätig.
Prof. Dr. Andreas M. Bock ist Professor für Politikwissenschaft an der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften Berlin und Lehrbeauftragter für Internationale Politik am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen internationale Sicherheit sowie politische Gewalt und Terrorismus.
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