Bedingungsloser Zugang zu allen Bereichen der Kriegshölle in Syrien: Das die Forderung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und weiterer humanitärer Organisationen. Kaum begonnen, sind die Genfer Friedensgespräche schon wieder festgefahren. Derweil geht im Land das Auslöschen ganzer Städte und ihrer Bewohner ungehindert weiter. Robert Mardini, der Schweizer IKRK-Verantwortliche für die Region, hat das Grauen mit eigenen Augen gesehen.
Am 3. Februar wurden die Genfer Friedensgespräche für Syrien, die noch gar nicht richtig begonnen haben, um drei Wochen vertagt. Derweil schuf Kriegsherr
Die USA und Frankreich kritisierten einmal mehr, dass die Bombardements aus der Luft "praktisch ausschliesslich" den Gruppen der Opposition sowie der Zivilbevölkerung gelten würden. Sie machten diese Luftangriffe teilweise verantwortlich für den Unterbruch der Runde in Genf.
In Genf sassen die Vertreter von Regierung und Opposition nicht am selben Tisch, sondern tagten immer nur getrennt. Staffan de Mistura, der UNO-Sondergesandte für Syrien, setzte die Wiederaufnahme auf den 25. Februar an.
Damit ist die dritte Runde der Genfer Friedensgespräche – zwei vorherige waren gescheitert - schon wieder in einer kritischen Phase. Dabei geht das Töten, dem in den fünf Jahren des Bürgerkrieges schon über 260'000 Menschen in Syrien zum Opfer gefallen sind, ungehindert weiter – eine schier unerträgliche Situation.
Bei Robert Mardini, dem IKRK-Verantwortlichen für den Nahen und Mittleren Osten, steht darum die Soforthilfe für die unzähligen Kriegsopfer und die Einwohner der eingekesselten und besetzten Städte ganz zuoberst auf der Dringlichkeitsliste.
Der Krieg in Syrien dauert nun schon fast fünf Jahre. Sind die Kämpfe schwächer geworden oder im Gegenteil intensiver?
Robert Mardini: Die Folgen für die Bevölkerung ist schlicht verheerend. "Katastrophal" ist leider zu schwach. Es gibt keine syrische Familie mehr, die nicht vom Konflikt betroffen wäre. Dieser ist in den letzten Monaten wieder intensiver geworden. Der Krieg führt das Töten, Verletzen, Verstümmeln fort, auch die Zerstörung der Infrastruktur für die Grundversorgung, wie sauberes Wasser, Spitäler und Schulen. Die Bewohner müssen flüchten, viele bereits zum zweiten, dritten, vierten oder gar fünften Mal.
swissinfo.ch: In letzter Zeit wurde viel über Madaya berichtet, eine belagerte Stadt in einer bergigen Region. Sind Belagerungen die aktuelle Strategie in diesem Konflikt?
Leider gab es das von Anfang an. Und nicht nur in Syrien. Ich denke auch an die Stadt Taïz in Jemen. Belagerungen haben stets dieselben verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Zuletzt waren Madaya, Foua und Kefraya stärker im Fokus der Medien. Das hat die internationale Gemeinschaft aufgerüttelt.
Die Zustände, die unsere Teams, unterstützt vom Roten Halbmond, dort vorgefunden haben, sind schlicht unfassbar: Menschen, abgemagert bis auf die Knochen, Kinder, Frauen und Alte zwischen Leben und Tod, weil sie seit vier Monaten kein Stück Brot mehr gesehen haben. Sie dachten, dass die ganze Welt sie aufgegeben hätte.
Wir wissen, dass ein paar Lastwagen voller Nahrungsmittelpakete und Medikamente nicht genügen, auch wenn damit Leben gerettet werden kann. Solche Missionen müssen dauerhaft stattfinden. Es gibt viele Madayas in Syrien, wo die Einwohner einen horrenden Preis zahlen. Manchmal fragt man sich, wo da die Menschlichkeit geblieben ist.
Das IKRK fordert also einen ständigen humanitären und bedingungslosen Zugang zu diesen Belagerungszonen?
Was wir fordern, ist simpel, da brauchen wir das Rad nicht neu zu erfinden. Während wir auf eine politische Lösung des Konflikts warten, was eine unverhandelbare Vorgabe ist, muss das internationale humanitäre Völkerrecht respektiert werden.
Dieses wurde leider in den letzten fünf Jahren von allen Seiten missachtet. Wir fordern eine ehrliche Aktion aller direkt am Konflikt in Syrien Beteiligter, aber auch von allen Ländern, die Einfluss ausüben. Es geht um grundlegende Dinge wie "Schiessen Sie nicht auf Ambulanzen und Rettungswagen, Spitäler, Krankenpersonal; keine Bomben auf Trinkwasserversorgungen, Schulen oder Gesundheitszentren".
Was ist mit Gesprächen mit dem so genannten Islamischen Staat?
Unsere Aufgabe ist es, Kontakte mit allen Konfliktparteien zu unterhalten. Heute aber gibt es keine Verbindung zum IS. Wir sind extrem beunruhigt über die humanitären Zustände in den Gebieten, die unter Kontrolle des IS stehen und wo zwischen Syrien und Irak rund sechs Millionen Menschen leben.
Wir konnten dort zwar zusammen mit anderen Organisationen einen humanitären Beitrag leisten. 2015 konnten wir etwa im Bereich Trinkwasser helfen. Aber man muss sehen, dass solche Erfolge sehr bescheiden sind gemessen an den Bedürfnissen und der Not, die in diesen Gebieten herrscht.
In London fand eine Geberkonferenz statt. Hilft die aktuelle Flüchtlingskrise, dass die Länder ihre abgegebenen Versprechen für finanzielle Unterstützung von Hilfsmassnahmen auch einhalten?
Man muss zuerst sehen, dass die humanitären Bedürfnisse von Jahr zu Jahr steigen. Weil vor allem die Infrastruktur zerstört wird, gibt es jedes Jahr weniger Wasser, weniger Spitäler, Gesundheitszentren, Medikamente etc.
Gleichzeitig geht es der Wirtschaft schlechter, die Kaufkraft der Menschen sinkt, die Bedürfnisse steigen, wie auch die Zahl der Menschen, die Hilfe benötigen. Da ist es nur logisch, wenn auch der Bedarf der humanitären Organisationen steigt.
Es geht aber nicht um Geld allein, auch wenn dieses sehr wichtig ist. In London waren die politischen Entscheidungsträger präsent, und an sie haben wir die Botschaft gerichtet, dass ernsthafter nach einer politischen Lösung des Konflikts gesucht werden muss.
Es gilt auch, die unmittelbaren Nachbarländer zu unterstützen, die durch die grosszügige Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen an den Rand ihrer Kapazitäten und ihrer Stabilität gelangen. Die Probleme dort sind riesig, und nur mit humanitärer Hilfe allein können sie nicht gelöst werden.
Im Gegensatz zu den Flüchtlingen, die Libanon, Jordanien und die Türkei aufgenommen haben, sind die Zahlen der Migranten in Europa, obwohl eindrücklich, doch immer noch gering. Europa hat die Mittel, Menschen, die daheim vor den Kämpfen fliehen mussten, aufzunehmen und ihnen Schutz zu bieten..
Eines gilt es ganz klar festzuhalten: Ein Mensch aus Syrien oder irgendeinem anderen Land der Erde beschliesst nicht leichten Herzens, seine Heimat zu verlassen. Dieser Entscheid ist immer äusserst schmerzhaft.
Die Menschen gehen erst, wenn sie keine andere Wahl mehr haben, wenn ihre Situation unhaltbar geworden ist: Durch die Gewalt der Kämpfe, fehlende Sicherheit, wenn die wirtschaftliche Situation unmöglich geworden ist, wenn Wasser, Strom und der Zugang zur Gesundheitsversorgung wegfallen, die Kinder nicht mehr die Schule besuchen können ... genau dann gehen die Menschen.
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