Präsident Erdogan gibt den Befehl für die lang geplante Offensive gegen Kurdenmilizen in Nordsyrien. Kurz darauf tauchen Berichte über Menschen auf der Flucht auf - und erste Tote. Ankara erntet internationale Kritik.
Mit Luftangriffen und Artilleriefeuer hat die Türkei ihre Militäroffensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien begonnen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte den Start am Mittwochnachmittag per Twitter. Der Einsatz stiess international auf scharfe Kritik.
Ziel der Operation ist die kurdische YPG-Miliz, die auf syrischer Seite der Grenze ein grosses Gebiet kontrolliert. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Erdogan schrieb am Nachmittag auf Twitter: "Unser Ziel ist, den Terrorkorridor, den man an unserer südlichen Grenze aufbauen will, zu zerstören und Frieden und Ruhe in die Region zu bringen."
Am Abend gab es Berichte über erste Opfer. Der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel-Rahman, sagte der Deutschen Presse-Agentur, ein kurdischer Kämpfer sei getötet und 13 weitere Menschen seien verletzt worden, darunter fünf Zivilisten. Der Sprecher der von der Kurdenmiliz YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mustafa Bali, hatte zuvor getwittert, es seien bei einem türkischen Bombardement auf das Dorf Maschrafa zwei Zivilisten umgekommen. Einige andere Menschen seien verwundet worden.
US-Präsident Donald Trump kritisierte den Einmarsch der Türken in Nordsyrien. "Die Vereinigten Staaten befürworten diesen Angriff nicht und haben der Türkei deutlich gemacht, dass diese Operation eine schlechte Idee ist", hiess es am Mittwoch in einer Stellungnahme.
In New York will sich am Donnerstagvormittag (Ortszeit) der UN-Sicherheitsrat mit dem Vorgehen der Türkei beschäftigen. Deutschland habe im Auftrag der fünf EU-Mitgliedsländer des Rates - neben Deutschland sind das Polen, Belgien, Frankreich und Grossbritannien - beantragt, dass das Thema in einer Sitzung angesprochen werde, hiess es am Mittwoch aus Diplomatenkreisen.
"Menschen sind in grosser Panik"
Die Angriffe schienen sich zunächst vor allem gegen zwei, etwa 120 Kilometer von einander entfernt liegende Orte und deren Umland zu richten: Tall Abjad und Ras al-Ain. Ras al-Ain liegt gegenüber dem türkischen Ort Ceylanpinar in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa. In Sanliurfa befindet sich die Kommandozentrale für die Offensive. Tall Abjad liegt nahe der türkischen Grenzstadt Akcakale.
Die Luftschläge und das Artilleriefeuer vom Boden begannen gegen 16 Uhr Ortszeit. Der Sprecher der SDF, Mustafa Bali, schrieb auf Twitter: "Türkische Kampfflugzeuge haben damit begonnen, Luftangriffe auf zivile Gebiete durchzuführen. Die Menschen in der Region sind in grosser Panik." Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete von einer Fluchtwelle aus Ras al-Ain und dem Umland.
Viele Regierungen und internationale Institutionen drangen scharf auf einen sofortigen Stopp der Offensive. Bundesaussenminister Heiko Maas sagte in Berlin: "Die Türkei nimmt damit in Kauf, die Region weiter zu destabilisieren und riskiert ein Wiedererstarken des IS." Es drohe eine weitere humanitäre Katastrophe sowie eine neue Fluchtbewegung. "Wir rufen die Türkei dazu auf, ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen."
EU fordert Türkei zum Abbruch der Militäroffensive auf
Auch die EU-Staaten haben die Türkei in einer gemeinsamen Erklärung zum Abbruch der Militäroffensive aufgefordert. "Erneute bewaffnete Auseinandersetzungen im Nordosten werden die Stabilität in der ganzen Region weiter untergraben, das Leiden der Zivilisten verschlimmern und zusätzliche Vertreibungen provozieren", heisst es in dem am Mittwochabend veröffentlichten Text. Die Türkei gefährde zudem die Erfolge der internationalen Koalition gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Als Beispiel wurde das Risiko genannt, dass durch die Kämpfe inhaftierte IS-Terroristen freikommen könnten.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, die Türkei müsse sicherstellen, dass ihr Vorgehen verhältnismässig und massvoll sei. "Es ist wichtig, alle Handlungen zu vermeiden, die die Region weiter destabilisieren (...) und noch mehr menschliches Leid verursachen können." Er will am Freitag in Istanbul mit Präsident Erdogan zusammenkommen und auch über die Militäroffensive sprechen.
Die syrischen Kurden hatten am Morgen eine Generalmobilmachung ihrer Truppen verkündet. Alle seien aufgerufen, sich an die Grenze zu begeben, um in diesen "kritischen historischen Momenten" Widerstand zu leisten, hiess es in einer Erklärung am Mittwoch. Kurden weltweit wurden aufgefordert, gegen die Offensive zu demonstrieren.
Der Einmarsch folgte auf widerstreitende Signale aus den USA. Diese hatten am Montag im Morgengrauen zunächst ihre Truppen aus der Grenzregion abgezogen - was auf grünes Licht für die türkische Offensive hinauslief. Die USA hatten die YPG vor einem Angriff aus der Türkei lange geschützt. Die von den kurdischen Milizen dominierten SDF waren im Kampf gegen die Terrormiliz IS lange ein enger Verbündeter der USA. Ihre Truppen gingen in Syrien am Boden gegen die Extremisten vor und konnten wichtige Gebiete einnehmen. Sie überwachen ausserdem zahlreiche Lager mit gefangenen IS-Kämpfern.
Trump vollzog Kehrtwende
Nachdem
Am Mittwoch sagte Trump, die Regierung in Ankara habe zugesagt, Zivilisten und religiöse Minderheiten zu schützen und sicherzustellen, dass es nicht zu einer humanitären Krise komme. Man erwarte von der Türkei, dass sie sich an diese Zusagen halte. Die Türkei sei nun ausserdem verantwortlich dafür, dass die in Nordsyrien gefangen gehaltenen Kämpfer der Terrormiliz IS weiter in Gefangenschaft blieben. Die Türkei müsste ausserdem sicherstellen, dass sich der IS nicht neu bilde.
Senatoren im US-Kongress bereiteten unterdessen eine parteiübergreifende Resolution für Sanktionen gegen die Türkei vor. Der republikanische Senator Lindsey Graham schrieb auf Twitter, er werde die Bemühungen im Kongress anführen, den türkischen Präsidenten Erdogan "einen hohen Preis" zahlen zu lassen. Der demokratische Senator Chris Van Hollen schrieb: "Der IS feiert Trumps Verrat."
Die Türkei will die Kurdenmilizen aus der Grenzregion vertreiben und dort in einer sogenannten "Sicherheitszone" Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die derzeit in der Türkei und Europa leben. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Mittlerweile kippt aber die anfangs von vielen gelebte Willkommenskultur, unter anderem wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage im Land.
Dritter Einmarsch
Die Türkei warb in den vergangenen Wochen aggressiv für die Zone - und um Gelder für den Aufbau der Infrastruktur. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erteilte dem Anliegen am Mittwoch eine Absage: "Erwarten Sie nicht, dass die Europäische Union dafür irgendetwas zahlen wird." Er droht damit indirekt auch mit einem Stopp der EU-Zahlungen, die die Türkei derzeit für aufgenommene syrische Flüchtlinge erhält.
Die Türkei war zuvor schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt, beide Male aber westlich des Flusses Euphrat. Im Jahr 2016 hatte sie mit der Offensive "Schutzschild Euphrat" in der Umgebung des syrischen Orts Dscharabulus den IS von der Grenze vertrieben, aber auch die YPG bekämpft. Anfang 2018 hatten von der türkischen Armee unterstützte Rebellen in einer Offensive gegen die YPG die kurdisch geprägte Grenzregion Afrin eingenommen.
Bis heute kontrolliert die türkische Armee dort gemeinsam mit verbündeten syrischen Rebellen ein Gebiet. Der Bundestag kam 2018 in einem wissenschaftlichen Gutachten zu dem Ergebnis, die türkische Präsenz erfülle alle Kriterien einer militärischen Besatzung. (dpa/fra)
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