Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan stösst wüste Drohungen in Richtung Israel aus und droht mit Krieg. Dahinter dürfte innenpolitisches Kalkül stecken. Und ein Traum, den Erdogan schon lange hegt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Hartmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es waren markige Worte, also genau das, was der türkische Präsident mag. Auf einer Veranstaltung seiner Partei AKP am Sonntagabend kam Recep Tayyip Erdogan auf den Krieg in Gaza zu sprechen. Was er zu sagen hatte, war nicht weniger als eine wüste Drohung in Richtung Israel. "So wie wir in Berg-Karabach reingegangen sind, so wie wir in Libyen reingegangen sind, werden wir mit ihnen dasselbe tun", sagte Erdogan.

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Droht hier jemand unverhohlen mit einem Angriff? Schon vor Erdogans Polterei waren die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Israel auf einem Tiefpunkt. Nun folgt die nächste Provokation.

Experte: Erdogan will von Problemen ablenken

Ein Anruf bei Burak Copur bringt Klarheit. Der Politikwissenschaftler von der Internationalen Hochschule in Essen ist ein ausgewiesener Kenner der Türkei und ihres politischen Systems. Copur sitzt im Auto, der Empfang ist wackelig, doch er sagt sofort und klar: "Erdogan will keinen Krieg. Er will vor allem von innenpolitischen Problemen ablenken."

Die Türkei befindet sich schon seit geraumer Zeit in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Inflation und Arbeitslosigkeit sind erdrückend hoch, viele Türken wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen – auch weil ihr Präsident lange Zeit dem Glauben anhing, mit niedrigen Zinsen die Teuerung bekämpfen zu können. Das Gegenteil ist der Fall. Doch Erdogan scherte das nicht. Die Folgen spüren die Türkinnen und Türken jeden Tag.

"Das Land steht mit dem Rücken zur Wand", sagt Experte Copur. Mit dem Feindbild Israel docke der Präsident an antisemitische Stimmungen in der Gesellschaft an – und lenke gleichzeitig von der schlechten wirtschaftlichen Lage ab. Die Wut solle sich nach aussen richten. "Das machen Autokraten immer gerne", sagt Copur.

Das Problem: Die Türkei ist nicht irgendwer. Das Land am Bosporus ist Nato-Mitglied. Formal ist es ins westliche Verteidigungsbündnis eingebunden. Doch unter Erdogan und seiner AKP hat sich das Land neu ausgerichtet: hin zur islamischen Welt. Das erklärt auch, warum Erdogan die einst guten Beziehungen zu Israel ramponiert hat. "Erdogan sieht sich als Führer der islamischen Welt", sagt Türkei-Experte Copur.

Der türkische Präsident spielt unterschiedliche Rollen auf der internationalen Bühne. Er will sich als Anführer, als starker Mann präsentieren. Mal inszeniert er sich als Friedensvermittler, etwa zwischen Russland und der Ukraine. Diese Rolle wollte Erdogan auch nach Ausbruch des Gaza-Kriegs spielen. Beides erfolglos. Inzwischen hofiert er die Terrororganisation Hamas, die auch von türkischem Boden aus agiert.

Als jüngst der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor dem US-Kongress sprach, plante Erdogan einen propagandistischen Gegenschlag. Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas sollte zeitgleich vor dem türkischen Parlament sprechen. Nur: Der winkte ab, kein Interesse. Für Erdogan eine Schmach, von der er ablenken wollte – indem er verbal in Richtung Israel austeilte.

Für Türkei-Kenner Copur ist klar: Erdogan ist ein Islamist, ein Antisemit. "Und er ist kein verlässlicher Partner des Westens."

Erdogan droht Israel: Die deutsche Politik ist alarmiert

Vor allem für Deutschland ist das ein Problem. Das Land ist eng mit der Türkei verbunden, nicht zuletzt wegen der rund drei Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland. Gleichzeitig gehört die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson. Provokationen aus Ankara werden so schnell zum Balanceakt. Kein Wunder also, dass das politische Berlin mit Sorge auf die jüngsten Äusserungen des türkischen Präsidenten blickt.

"Das ist verantwortungslos", sagt der Grünen-Politiker Max Lucks. Er ist Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag. Für Lucks ist klar: Erdogan profiliert sich innenpolitisch und er testet die Grenzen innerhalb der Nato aus.

"Wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, seine Äusserungen als rhetorische Entgleisungen ad acta zu legen", sagt Lucks. Erdogan verlange eine Reaktion, "und die sollte er auch bekommen", meint der Grünen-Politiker. "Die Nato sollte Erdogan klarmachen, dass es inakzeptabel ist, die Eskalationsspirale weiter zu befeuern." Auch von der Bundesregierung erwartet Lucks dazu "die nötige Klarheit".

Nur: Ob mahnende Worte den Wüterich vom Bosporus einlenken lassen? Zumindest Türkei-Experte Copur glaubt das nicht. "Erdogan ist ein Populist, er nutzt jede Bühne, die ihm geboten wird", sagt er. Soll heissen: Auch in Zukunft droht weiteres Säbelrasseln aus Ankara. Deeskalation für das Pulverfass Nahost ist nicht zu erwarten – zumindest nicht von dieser Türkei.

Verwendete Quellen

  • Telefonat mit Burak Copu
  • Stellungnahme von Max Lucks
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