Seit acht Jahren kommt Libyen nicht zur Ruhe. In den komplizierten Konflikt sind auch europäische Staaten verstrickt. Es geht um Öl, regionalen Einfluss – und Flüchtlinge.

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Rund 440 Menschen sind allein in den vergangenen vier Wochen ums Leben gekommen, mehr als 2.100 verletzt worden: Mit den Kämpfen um die Hauptstadt Tripolis ist der Krieg in Libyen erneut eskaliert.

Die Lage ist inzwischen auch für Experten unübersichtlich: Allianzen wechseln, die Interessen der Akteure sind nicht immer deutlich.

Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:

Wer kämpft gegen wen?

Die Zahl der kämpfenden Gruppen hat zugenommen. "Im Vergleich zu 2011 gibt es es inzwischen nicht nur innerhalb des Landes mehr Milizen und Interessengemeinschaften. Es treten auch mehr internationale Akteure auf, die zudem untereinander zerstritten sind", sagt Andreas Dittmann, Professor für Geographische Entwicklungsforschung an der Universität Giessen, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Es gibt in diesem Konflikt eigentlich keine Unschuldigen."

Der zentrale Konflikt verläuft derzeit zwischen zwei Akteuren: Die international anerkannte Regierung unter Fayez al-Sarraj kontrolliert die Hauptstadt Tripolis und das Umland. Gegen sie rücken die Truppen des Generals Khalifa Haftar vor, der inzwischen nicht mehr nur den Osten, sondern grosse Teile des Landes kontrolliert.

Welche Verantwortung trägt das Ausland für die verfahrene Lage?

Die Staaten des Nahen Ostens und des Westens verfolgen nicht nur eigene Interessen, sie haben Libyen nach Auffassung vieler Experten auch allein gelassen, nachdem 2011 eine internationale Militärintervention Muammar al-Gaddafi gestürzt hatte.

Die Vereinten Nationen formulierten drei Verantwortlichkeiten, als der Langzeit-Machthaber im Zuge des Arabischen Frühlings gegen Rebellen kämpfte: Sie wollten die Zivilbevölkerung vor Gaddafi schützen, in den Konflikt eingreifen und das Land schliesslich wiederaufbauen.

"An den Wiederaufbau hat sich nach der Militärintervention aber keiner so richtig erinnert", erklärt Libyen-Experte Dittmann. "Vor allem hat man die Libyer mit der Frage allein gelassen, wie sie die Demokratie gestalten wollen."

Die EU hat ein Waffenembargo verhängt. Welche Wirkung hat eine solche Massnahme?

Offenbar nur eine begrenzte. "Libyen ist ohnehin hoffnungslos überbewaffnet", sagt Andreas Dittmann. Während der Rebellion 2011 seien zahlreiche Waffendepots geknackt worden, viele Zivilisten hätten sich bewaffnet.

"Die Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben in der heissen Phase des Konflikts zudem noch weitere Waffen ins Land gebracht." Über diese Staaten können auch europäische Waffen nach Libyen gelangen. Denn Embargos verbieten nur direkte Lieferungen in das jeweilige Land.

Warum spielen Frankreich und Italien eine so wichtige Rolle in dem Konflikt?

Beide Länder sind eng mit Libyen verstrickt und vor Ort Konkurrenten: Italien ist die ehemalige Kolonialmacht, Frankreich will seinen Einfluss in Nordafrika sichern. Hinzu kommt, dass das Interesse an Öl aus der Region in jüngster Zeit wieder gewachsen ist.

"Der halbstaatliche italienische Erdöl-Konzern Eni greift zur Zeit in grossem Umfang auf libysches Erdöl zu – vor allem in dem Raum, den Haftar kontrolliert", so Dittmann.

"Aber auch Frankreich will verstärkt an das libysche Öl herankommen." Die Sarraj-Regierung beendete im April die diplomatischen Beziehungen zu Paris – weil sie Frankreich vorwirft, den Warlord Haftar zu unterstützen.

Wer steht auf der Seite der Einheitsregierung?

Die Sarraj-Regierung wird von der Türkei und Katar unterstützt. Zumindest offiziell stehen auch die UN und die europäischen Staaten hinter ihr – Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Sarraj gerade in Berlin empfangen.

Allerdings erfolgt diese Unterstützung rein aus pragmatischen Erwägungen. Die Europäer hätten die Regierung anerkannt, weil sie einen staatlichen Partner für ihre Flüchtlingsdeals brauchten, erklärt Andreas Dittmann.

Denn vom Raum Tripolis aus starten die meisten Boote übers Mittelmeer. "Um Flüchtlinge schon auf afrikanischem Boden abfangen zu können, war den Europäern ein solcher Verhandlungspartner zunächst wichtiger als der Zugriff aufs libysche Öl."

Und wer steht hinter Haftar?

Der General hat wichtige Akteure im Rücken, neben Russland allen voran die Regionalmächte Ägypten und Saudi-Arabien. Das bringe auch den Westen in die Bredouille, sagt Andreas Dittmann: "Er sieht sich zwar moralisch auf der Seite der anerkannten Regierung. De facto ist aber auch die Militärdiktatur in Ägypten ein Verbündeter des Westens – und Ägypten steht auf der Seite Haftars."

Haftar inszeniert sich nicht nur als Kämpfer gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, die ebenfalls in Libyen präsent ist – er kontrolliert auch wichtige Öl-Vorkommen. Seit seiner Offensive halten sich auch die USA mit Mässigungsappellen auffällig zurück.

Eigentlich stehe der gesamte Westen eher auf Haftars Seite, erklärt Dittmann – selbst wenn Europa wegen der Flüchtlingsdeals auf eine Zusammenarbeit mit der Sarraj-Regierung angewiesen ist.

Wer hat in diesem Konflikt die besseren Karten?

Haftars Vorrücken zeigt, dass er gerade in der Offensive ist. Die Sarraj-Regierung verfügt zudem kaum über eigene Truppen und muss sich vor allem auf die Hilfe von Milizen verlassen.

"Man kann sagen, dass Haftar eher die Fahnen entgegenfliegen", sagt Andreas Dittmann. "Im Land herrscht seit 2011 Krieg, die Libyer haben schlicht die Nase voll davon. Sie wollen Frieden, egal wie. Viele wollen jetzt einen starken Mann, der für Ruhe und Ordnung sorgt – und den sehen sie in Haftar."

Wie ist die Lage der Flüchtlinge im Land?

Die deutsche Botschaft im Nachbarstaat Niger berichtete schon 2017 von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in libyschen Flüchtlingslagern. Diese Lager sind mit Unterkünften nach europäischen Vorstellungen kaum vergleichbar. "Es gibt in Libyen so gut wie keine offiziellen Flüchtlingshilfsorganisationen", sagt Andreas Dittmann.

Kriminelle würden zudem Geld mit Flüchtlingen machen, indem sie etwa deren Weiterreise verhinderten und die Heimatfamilien erpressten. "Je weiter afrikanische Flüchtlinge auf ihrem Weg Richtung Mittelmeerküste kommen, desto mehr steigert sich der Preis, den sie für ihre Flucht zahlen müssen."

Was bedeutet dieser Konflikt für Europa?

Europa hat mit Libyen schon zu Gaddafi-Zeiten paktiert, damit das Land afrikanische Migranten aufhält. Die jahrelangen Kämpfe haben nicht nur die Flüchtlinge zwischen die Fronten geraten lassen – sie treiben auch immer mehr Libyer in die Flucht.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO haben die jüngsten Kämpfe um Tripolis 60.000 Menschen vertrieben. Von denen werden die meisten wohl eher nach Tunesien flüchten, glaubt Libyen-Experte Dittmann.

Regierungschef Sarraj setzt Europa aber ebenfalls mit der Warnung vor neuen Flüchtlingsbewegungen unter Druck. Im April sagte er in einem Interview mit der "Welt": Wenn seine Regierung die Kontrolle verliere, könnten "80.000 illegale Einwanderer den Weg nach Europa finden".

Verwendete Quellen:

  • Prof. Dr. Andreas Dittmann, Justus-Liebig-Universität Giessen
  • Twitter-Account World Health Organization in Libya
  • NZZ.ch: Die wichtigsten Fragen zur Schlacht um Tripolis
  • Tagesspiegel.de: Wie gefährlich ist der Konflikt in Libyen?
  • Welt.de: "Dann werden 80.000 Flüchtlinge einen Weg nach Europa finden"

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