- Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine produziert täglich tausende Bilder, die das Grauen illustrieren.
- Ursula Meissner reist seit Jahrzehnten als Fotografin in Kriegs- und Krisengebiete auf der ganzen Welt und weiss um die Macht dieser Bilder.
- Im Interview erklärt sie, welchen Einfluss gefakte Fotos haben, was die Ästhetik von Kriegsbildern ausmacht und erzählt ihre gefährlichsten Erlebnisse.
Frau Meissner, in einer Dokumentation über Sie heisst es, Sie hätten nach Ihrer ersten Reise nach Afghanistan geschworen, nie mehr in Kriegs- oder Krisengebiete zu reisen. Seither sind Jahrzehnte vergangen und Sie üben den Job noch immer aus. Was hat Ihre Meinung geändert?
Ursula Meissner: Als ich damals in Afghanistan war und den ersten Bombenangriff der Russen hautnah miterlebte, hat die Erde gebebt. In einem solchen Moment hat man Angst um sein Leben und es geht nur noch um das Überleben. Da habe ich mich gefragt: Was mache ich eigentlich hier? Auf dem Rückweg nach Pakistan – wir waren auf einem ewig langen Fussmarsch unterwegs – habe ich dann verschiedenen Menschen ins Gesicht sehen können. Manche barfuss im Schnee, mit Huhn auf dem Arm, oder Kinder, die so am Ende waren, dass man es an ihren Blicken sah. Diese Blicke haben mich nicht mehr schlafen lassen und ich habe mir gedacht, dass man zeigen muss, was Kriege bedeuten. Man muss zeigen, was es heisst, einen Krieg zu überleben und wie schrecklich Kriege sind. Und man muss die Wahrheit zeigen, denn das erste, was im Krieg stirbt, ist die Wahrheit.
Wie schätzen Sie diesbezüglich das Problem um gefakte Kriegsbilder ein, die gerade in den letzten Jahren rund um Social Media immer mehr zugenommen hat?
Nun, für viele Menschen spielt sich das Nachrichtenverfolgen nur am Handy ab. Die wenigsten lesen Zeitung oder schauen seriöse Nachrichten. Man bekommt vielmehr irgendetwas über WhatsApp geschickt und teilt das dann. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine, auch da sind viele Fake News dabei. Und es ist schwierig zu differenzieren. Selbst ich, die jahrzehntelange Erfahrung hat, muss mehrmals und genau hinsehen. Es ist immer erst einmal gut, zu fragen, ob etwas inszeniert sein könnte oder ob ein Motiv dahinterstehen könnte. Das macht der durchschnittliche Betrachter aber nicht und darin liegt die Gefahr. Das Bild ist im Kopf und trägt zur Wahrnehmung bei. Dasselbe gilt im Übrigen für verzerrte Überschriften von Artikeln. Auch das kann sehr gefährlich sein.
Lesen Sie auch: Alle aktuellen Informationen zum Krieg in der Ukraine im Live-Ticker
"Der Krieg ist schlimm genug – da braucht es keine Inszenierung"
Das heisst, Sie würden den Einfluss solcher Bilder nicht unterschätzen wollen. Wie machtvoll sind denn im Allgemeinen Fotos aus Kriegsgebieten, ganz gleich, ob gefaked oder nicht?
Ich halte Kriegsbilder für sehr machtvoll. Sie zeigen immer eine Katastrophe und sie manifestieren sich im Kopf vieler Menschen. Meistens zeigen Kriegsbilder eine Explosion oder irgendeine andere Katastrophe. Und das Problem ist, dass es dann beispielsweise heisst, auf dem Bild sei eine Schule zu sehen und dabei seien 150 Kinder gestorben. Das führt dann, zu Recht natürlich, zu Empörung, zu schneller Reaktion und einer schnellen Nachricht – oft, ohne noch einmal nachzufragen oder zu überprüfen.
Dabei muss man doch immer fragen, was hinter einem Bild steht und wer ein Interesse daran hat, es zu verbreiten. Auch in der Ukraine ist es schwierig, denn natürlich kommt man vor Ort nur schwer voran und auch als Journalist eben gerade nicht einfach an jeden Ort. Es gibt bestimmte Korridore und das Militär regelt, wer wo hinein darf. Das ist in jedem Krieg so und ich habe das so auch alles selbst erlebt. Ich habe 30 Jahre Krieg erlebt und es ist schlimm genug, wenn etwas bombardiert wird oder Menschen erschossen werden. Das ist Tragödie genug, da muss man nichts mehr inszenieren, wenn die Fotografen kommen. Wenn Journalisten mit Bussen zu Orten, die bombardiert wurden, gekarrt werden, damit sie dort dann besonders schlimme Fotos machen, ist das makaber. Und wie gesagt: Der Krieg selbst ist schlimm genug, da braucht es keine Inszenierung.
Lesen Sie auch: Kiew schlägt Russland Tauschgeschäft für Mariupol vor
"Meldungen zu korrigieren, ist schwierig"
Die Problematik bei gefakten Nachrichten oder gefakten Bilder besteht natürlich auch darin, dass man sie kaum noch korrigieren kann. Ich war in den 90ern im Krieg in Mostar (Jugoslawienkriege; Anm.d.Red.) und wir haben die Meldung bekommen, Dubrovnik sei komplett zerstört und dem Erdboden gleich gemacht worden, und die Altstadt und alle Gebäude dort seien komplett niedergebrannt. Später, im Herbst 1992, wollte ich nach Split fahren, um mich nach all den Erlebnissen in Sarajevo ein bisschen zu erholen und zu sammeln. Ich bin dann über Dubrovnik gefahren, um mir die Altstadt anzuschauen. Und dann stellte sich heraus, dass die Meldungen, die wir erhalten hatten, übertrieben waren. Die Altstadt war nicht komplett heruntergebrannt. Man sah zu dem Zeitpunkt, als ich dort war, zwar die Spuren der Granaten und es gab Zerstörung, aber es war eben ein anderes Ausmass. Ich habe das dann auch so weitergegeben, aber Meldungen, die einmal gelaufen sind, zu korrigieren, ist schwierig.
Stichwort gefakte Bilder: Würden Sie also sagen, es ist weniger die Technik als der Krieg selbst?
Ja, gefakte Bilder waren schon früher ein Problem. Es geht jetzt nur schneller und die Bilder landen direkt auf den Handys der Menschen. Bilder und Videos lösen auch so schnell Emotionen aus, dass – egal ob bei Fake oder Original – oft kein sachliches Gespräch mehr über das Foto oder das damit verbundene Ereignis möglich ist. Das ist ja auch oft das Ziel von Bildern, die gezielt in den Umlauf gebracht werden: Emotionen auslösen, damit nicht mehr hinterfragt wird. Ich würde also sagen, die Technik verstärkt einfach ein bereits bestehendes Problem.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass wir, aufgrund der Aufmerksamkeitslogik der Medien, täglich mehrere schlimme Nachrichten und schreckliche Bilder erhalten und dann abstumpfen. So war es auch damals in Sarajevo. Wenn jeden Abend in der Tagesschau grauenhafte Bilder und Nachrichten laufen, dann hört man irgendwann nicht mehr hin und stumpft ab. Das ist auch beim Krieg in der Ukraine so. Dieser Effekt konnte auch bei Corona beobachtet werden. Dieser Abstumpfungseffekt ist auch durch Studien belegt. Wenn der Wahnsinn des Krieges permanent und immer und immer wieder gezeigt wird, dann erreicht man damit also paradoxerweise das Gegenteil von dem, was man eigentlich will: Zeigen, wie schlimm der Krieg ist, damit bei den Menschen ein Verständnis dafür entsteht, warum Menschen flüchten. Oder auch damit Menschen grundlegend verstehen, dass Krieg eine so furchtbare Sache ist, die es von Grund auf abzulehnen gilt. Ich bin ohnehin überzeugte Pazifistin.
"Den Menschen Hoffnung zu geben, treibt mich an"
Wie gehen Sie mit dem Erlebten um, gerade vor dem Hintergrund, dass man stets mit dem Tod konfrontiert wird und mit dem von Ihnen beschriebenen unermesslichen, menschlichen Leid?
Je älter man wird, desto schlimmer wird es. Früher war es für mich einfacher, das wegzustecken. Heute denke ich manchmal, dass in meinem Kopf kein Platz mehr ist, um das alles auszuhalten. Ich leide aber meist erst, wenn ich wieder zu Hause bin. Wenn ich in einem Kriegsgebiet bin, habe ich mit der Kamera immer eine Art Schutz dabei. Da kann ich mich festhalten und weitermachen und den Menschen – und das ist mein Antrieb – durch meine Arbeit Hoffnung geben. Wenn ein Krieg beginnt und Journalisten vor Ort sind, gibt das den Menschen immer Hoffnung, dass es schnell wieder vorbei sein wird. Denn wenn jemand über die Gräueltaten berichtet, dann hilft das. Das war auch in Sarajevo so. Am Anfang haben alle gedacht, durch uns Journalisten geht alles schneller vorbei. Als das dann nicht der Fall war, gab es gegen Ende sogar den Vorwurf, wir hätten mit unserer Berichterstattung den Serben geholfen und ihnen gezeigt, wo sie hin schiessen sollen. Ich gehe davon aus, dass diese Hoffnung zunächst auch in der Ukraine bestanden hat. Die Arbeit ist aber natürlich auch unheimlich schwierig und es ist sicherlich auch in der Ukraine sehr schwierig. Die Ukrainer sind selbstbewusst, aber ein Interview zu machen, in dem sich jemand wirklich darauf einlässt, ist auch dort schwierig. Weil die Menschen eben Angst haben, dass man sie in den Berichten sieht und Familienmitglieder dadurch in Gefahr gebracht werden. Emotionen oder Gefühle bleiben aus diesen Gründen manchmal auf der Strecke und meistens kommt dann nur Propaganda in den Interviews vor. Die Arbeit für alle Journalisten erschwert die schnelle Berichterstattung sehr.
Vor diesem Hintergrund: Was war die gefährlichste Situation, in der Sie bislang waren?
In Sarajevo war es immer sehr gefährlich, wenn wir von der einen zur anderen Seite zu den Serben wollten und mit dem Auto durch die Frontlinie fahren mussten. Die Serben wollten auch nicht mit uns reden und haben uns also nicht mitgenommen. Besonders bitter ist es, wenn man dann sein Leben riskiert, auf die andere Seite gelangt und feststellt: die wollen gar nicht mit uns reden. In Afghanistan bin ich ausserdem einmal gekidnappt und in eine Hütte gesperrt worden. Da dachte ich wirklich, mein Leben ist vorbei. Das war eine Situation, in der ich innerlich fast gestorben bin, aber nach aussen musste ich Dominanz zeigen. Ich habe meinen Kidnappern versprochen, dass ich in einem Dorf Geld liegen habe, damit sie mich dort hinbringen. Für die war es so, dass sie dadurch eigentlich keinen Nachteil hatten: Wenn sie mich hinbringen und ich sage die Wahrheit, haben sie Geld und können immer noch entscheiden, was sie mit mir machen. Wenn sie mich direkt umbringen, haben sie aber auf jeden Fall kein Geld.
Kriegsfotografin berichtet von gefährlichsten Erlebnissen
Da habe ich mich wirklich auf einem sehr schmalen Grat bewegt. Wenn ich zu Hause immer schon wüsste, was mich erwartet, würde ich wahrscheinlich gar nicht erst losfahren. Einmal hatte ich auch einen kleinen Citroen und wollte im Jugoslawienkrieg zu einer der Kriegsparteien. Da musste ich einen kroatischen Checkpoint passieren. Ich wurde durchgewunken und am Ende der Strasse war eine Schlucht zu sehen. Auf dem Weg in Richtung dieser Schlucht wurde ich beschossen und musste gleichzeitig noch mein kleines Fahrzeug an Felsen vorbeilenken. Doch die Strasse ging nicht weiter und war gesperrt, was ich erkannte, während ich beschossen wurde. Dann musste ich tatsächlich drehen und noch einmal durch den Bereich durch, in dem ich beschossen wurde. Ich bin dann also wieder auf den kroatischen Checkpoint zugerast, habe dort eine Vollbremsung gemacht und es aber vor lauter Adrenalin und Emotionen nicht geschafft, auszusteigen. Ich habe den Soldaten, der mich durchgewunken hat, angeschrien, warum er mich nicht gewarnt hat. Sein Kommentar war nur: Du hast ja nicht gefragt. Da wurde mir klar, man ist einfach machtlos. Man braucht zwar einen klugen Verstand, aber es ist eben Krieg und das heisst, man braucht auch verdammt viel Glück. Man hat zwar meist einen Ortskundigen dabei, der weiss, wo geschossen wird. Aber das ändert sich ja auch täglich. Im Grunde liegt dann mein Leben in dessen Hand. Und dazu kommt ja dann auch noch, dass man seine Arbeit und entsprechende Bilder liefern muss.
Sie haben gerade die Bilder, die Sie liefern sollen, angesprochen. Was macht denn die Ästhetik eines guten Bildes – so makaber das klingen mag – aus einem Kriegs- oder Krisengebiet aus?
Ein Bild ist dann ein gutes Bild, wenn Emotionen geweckt werden. Als ich im Kosovo unterwegs war, war es ein Mädchengesicht. Das kleine Mädchen hatte zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen und war über viele Berge gelaufen, um der Gefahr zu entgehen. In diesem einen Bild hat man das ganze Elend und Leid der Kosovo-Albaner sehen können. Das haben mir Menschen gesagt, die dieses Bild betrachtet haben. Da braucht es kein Blut und keine Waffen. Das menschliche Leid kann auch ohne diese Elemente gezeigt werden. Ein anderes Beispiel ist der Cellist in den Ruinen. Dieses Bild hat auch viele Preise gewonnen. Man sieht das ganze Ausmass der Zerstörung in Sarajevo und den Nebel in den Ruinen. Und mittendrin sitzt dieser Mann und spielt sein Cello. Dieses Bild weckt einfach Emotionen. Ich habe einmal Aufsätze über dieses Bild schreiben lassen und es hat sich gezeigt, dass jeder etwas anderes in diesem Bild sieht. Das ist es, was ein gutes Bild ausmacht. Allerdings gelingen solche Bilder nur selten.
Entscheiden Sie selbst, in ein Kriegsgebiet loszuziehen?
Man geht immer nur auf Auftrag in ein Kriegsgebiet. Es ist ohnehin schwierig: Man steht unter Druck den Auftrag zu erledigen, muss sich im Gebiet zurechtfinden, und man weiss meist nicht, wo man steht und ob es ein Erfolg werden kann. Da muss man hochkonzentriert und im Flow sein. Ohne einen entsprechenden Auftrag geht das aber nicht. Man braucht einen solchen, um überhaupt eine Genehmigung zu bekommen. Meist stellt die das Militär für ein bestimmtes Gebiet aus. Dafür braucht es das Papier mit Auftraggeber und Presseausweis. Meistens sind es mehrere Genehmigungen, die man vor Ort beantragen muss. Und die Kriegsparteien wollen die Journalisten ja auch nutzen, um entsprechende Bilder in die Medien zu bekommen. Die Arbeit ist jedenfalls nicht nur gefährlich, sondern durch die vielen Papiere, die man braucht auch bürokratisch und daher kompliziert.
Ohne "Stringer" geht nichts
Haben Sie denn Personenschutz dabei und sind Sie in irgendeiner Form geschützt?
Ich hatte schon bewaffnete Polizisten dabei, aber da fällt man dann mehr auf und das ist für die Arbeit als Fotografin nicht gut. Wenn man mit Bewaffneten an seiner Seite herumläuft, wird auch eher auf einen geschossen. Ich selbst habe natürlich nie Waffen. Einen ortskundigen "Stringer" (Helfer, Vermittler von Kontakten vor Ort, Anm.d.Red) zu finden, der auch die Sprache spricht, ist am wichtigsten. Bestenfalls sollte er auch ein Auto haben. Und das Wichtigste: Man muss ihm absolut vertrauen.
Nach all dem menschlichen Leid und der psychischen und physischen Belastung nach einem Auftrag: Was machen Sie als erstes, wenn Sie Zuhause sind?
Meistens dusche ich. Früher ging ich ins Labor, um meine Filme zu entwickeln und die Abzüge zu bestellen. Heute sind die Bilder ja schon unterwegs bearbeitet und sortiert, zumindest der wichtigste Teil. Abends geniesse ich einen Rotwein, mit dem ich dann gut schlafen kann. Ich gehe zunächst nicht gerne unter Menschen und bleibe lieber einige Zeit allein, damit ich mich wieder an die normale Welt gewöhnen kann. Das kann Tage oder sogar, wie nachdem ich festgehalten wurde, mehrere Wochen dauern, bis ich darüber reden kann.
Liebe Frau Meissner, haben Sie vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Verwendete Quellen:
- Telefonisches Gespräch mit Ursula Meissner
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.