Sexuelle Gewalt in Konflikten ist ein wachsendes Problem. Oft ist von Vergewaltigung als "Kriegswaffe" die Rede. Ob dies zutrifft und wie Länder wie die Schweiz solche Verbrechen bekämpfen können, erörtert die Politologin Dara Kay Cohen von der Harvard University im Interview mit swissinfo.ch.
Vergewaltigungen in Kriegsgebieten nehmen zu. Dies ist das Fazit aus der Konferenz der Nichtregierungsorganisation TRIAL International, die im Juni in Genf abgehalten wurde.
Es beschäftigt auch die Schweizer Aussenpolitik. Valentin Zellweger, Schweizer Botschafter bei der UNO in Genf, erörterte in seiner Eröffnungsrede einige der zentralen Massnahmen, welche die Schweiz in diesem Bereich ergriffen hat.
Darunter sind Mediation, rechtliche und institutionelle Hilfe für Opfer, Vergangenheitsbewältigung und die Stärkung des internationalen Strafrechts.
swissinfo.ch: Die Schweiz scheint in diesem Bereich vielfältig engagiert zu sein. Welche Massnahmen könnte sie sonst noch ergreifen?
Dara Cohen: Es braucht mehr Grundlagenforschung. Um die Ursachen dieses Phänomens besser zu verstehen, müssen vor allem sozialwissenschaftliche Studien finanziert werden, die sich mit den bewaffneten Akteuren befassen. Denn das meiste, was wir über Vergewaltigung im Krieg wissen, stammt aus Zeugen- und Opferaussagen. Sehr wenige Forscher haben sich mit den Tätern befasst, um zu verstehen, wie und warum Vergewaltigungen verübt wurden. Ohne ein klares Bild der Bedingungen, die sexuelle Gewalt wahrscheinlich machen, ist es sehr schwer, effektive Massnahmen zu ergreifen.
swissinfo.ch: Setzen wir die richtigen Schwerpunkte?
D.C.: Leider übersehen sowohl die Wissenschaft als auch die Politik oftmals, was Opfer und Überlebende wirklich brauchen. Gemäss den mir bekannten Studien sind Gerechtigkeit und Rechenschaft nicht die ersten Prioritäten der Opfer. Viel eher verlangen sie Zugang zu medizinischer Hilfe und psychosozialer Unterstützung.
Allerdings sind abstraktere Ziele wie Rechenschaft am interessantesten für westliche Geldgeber. Dieses Missverhältnis gründet auf fehlender Grundlagenforschung und auf Annahmen, die kaum getestet wurden.
Das heisst selbstverständlich nicht, dass beispielsweise Bemühungen, Kriegsvergewaltigungen zu einem international geächteten Kriegsverbrechen zu machen, nicht extrem wichtig sind. Damit zeigt die internationale Gemeinschaft nämlich, dass die Vorstellung von sexueller Gewalt als unvermeidbare und unkontrollierbare Nebenerscheinung des Kriegs veraltet ist und nicht mehr akzeptiert wird.
Internationale Straftribunale zu unterstützen bedeutet, dass man Normen setzt und erklärt, dass diese Verbrechen weltweit weder akzeptiert noch toleriert werden. Doch internationale Tribunale sollten nicht als Hauptlösung für das Problem präsentiert werden, denn es scheint mir unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich die erhoffte Abschreckung bewirken.
swissinfo.ch: Wenn wir von Normen sprechen, taucht oftmals der Begriff "Vergewaltigung als Kriegswaffe" auf. Ist er zutreffend? Ist er zielführend?
D.C: Einerseits ist die starke Verbreitung dieses Begriffs eine grosse Errungenschaft der Wissenschaftler und Aktivisten, die ihn in den Diskurs eingebracht haben. Damit haben sie es geschafft, dass Politiker heutzutage anders über Vergewaltigungen in Konflikten sprechen – als spezifisches Verbrechen und als Kriegstaktik, nicht bloss als Nebenerscheinung.
Andererseits hat sich der Diskurs nun etwas gar weit verschoben – so weit, dass jegliche systematischen Vergewaltigungen in Kriegen als "Kriegswaffe" gelten. Meiner Meinung nach ist das falsch, denn damit verschleiern wir die Komplexität des Phänomens. Wir gehen davon aus, dass Vergewaltigungen von irgendeinem ruchlosen Kommandanten befohlen werden, der eine klare Strategie verfolgt. Dafür gibt es aber in den meisten Fällen kaum Belege.
Wir verwechseln die schrecklichen Folgen von Vergewaltigungen mit den Motiven der Täter. Gewiss, oft führen Vergewaltigungen in Konflikten zu taktischen Erfolgen– man denke an die Vertreibung von Bewohnern aus umkämpften Gebieten – aber das bedeutet nicht, dass dies von Anfang an so geplant war.
Aus politischer Sicht ist diese Erkenntnis enorm wichtig. Vergewaltigungen eine "Kriegswaffe" zu nennen suggeriert, dass primär die Befehlshaber zur Rechenschaft gezogen werden müssen, um sie zu verhindern. Meine Kollegen und ich kritisieren diese Vorstellung. Vergewaltigungen passieren meistens in der Hitze des Gefechts und werden nicht von hohen Befehlshabern, sondern von den Kämpfern vor Ort angeordnet.
Es ist unwahrscheinlich, für solche Verbrechen nachweisbare Befehlsketten zu finden. Vergewaltigungen werden eher toleriert, als dass sie befohlen werden. Diese Einsicht erfordert vollkommen andere Kriterien, um zu bestimmen, wer wofür zur Rechenschaft gezogen werden soll.
swissinfo.ch: Heisst das, wir sollten unseren Fokus eher auf psychologische Verhaltensmuster richten und weniger auf begünstigende externe Faktoren?
D.C: Selbstverständlich gibt es auch äussere Bedingungen, unter denen Vergewaltigungen wahrscheinlicher sind und die es zu studieren gilt. Zusammenbrechende staatliche Strukturen beispielsweise. Oder wenn bewaffnete Gruppen sich über Schmuggelware finanzieren und Zugang zu materiellem Reichtum haben. Dann entziehen sie sich der Rechenschaft gegenüber der Zivilbevölkerung, was die Hemmschwelle für Vergewaltigungen senken kann.
In meinem Buch gehe ich vor allem auf ein empirisch belegtes Verhaltensmuster besonders ein. Vergewaltigungen in Friedens- und in Kriegszeiten nehmen völlig unterschiedliche Formen an. Gruppenvergewaltigungen sind in Kriegszeiten viel häufiger anzutreffen – ein Befund, der in verschieden Kulturen zu beobachten ist. Zu welchem Zweck greift eine bewaffnete Gruppe zu einer solchen Massnahme?
Meine Ergebnisse zeigen, dass Gruppenvergewaltigungen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Kämpfer stärken. Besonders effektiv sind sie für Banden, die ihre Mitglieder zwangsrekrutieren und daher einen schwachen sozialen Zusammenhalt haben. Vergewaltigungen können auch als Initiationsrituale für neue Kämpfer dienen.
swissinfo.ch: An der Konferenz beklagten viele NGO-Vertreter, dass es immer noch keine umfassenden, globalen Studien gebe und dass die Dunkelziffer enorm sei. Haben wir überhaupt eine Ahnung vom Ausmass des Problems?
D.C: Der Forschung stellen sich in der Tat viele Herausforderungen. Zunächst gibt es unzählige Definitionen von "sexueller Gewalt in Konflikten". Und selbst wenn man nur den engen Begriff der Vergewaltigung verwendet, ist es schwer, aussagekräftige Messungen vorzunehmen. Sollen wir die Anzahl Opfer messen, die Anzahl Taten, oder beides? Ich interviewte in meinen Studien Opfer, die einmal von einer Person, einmal von mehreren Personen, oder mehrmals von einer und mehreren Personen vergewaltigt wurden.
Zweitens gibt es bei Umfragen Probleme mit Antwortverzerrungen. Eine typische Umfrage fordert die Leute auf, über die Art und Weise, wie sie sexuell misshandelt wurden, Auskunft zu geben. Die Daten werden dann von der Stichprobe auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet. Vergewaltigung ist aber eine der am meisten stigmatisierten Formen von Gewalt, viele der Befragten fühlen sich unwohl bei solchen Fragen. Umfragen spiegeln daher oftmals nicht die ganze Realität wider.
Eine neuartige Methode in den Sozialwissenschaften, die über die simple Ja-Nein-Umfrage hinausgeht, ist das Listenexperiment. Es erlaubt dem Befragten, indirekt über sexuelle Gewalt Auskunft zu geben. Durch Ausschlussverfahren und Wahrscheinlichkeitsrechnung gelingt es dem Forscher, sich der tatsächlichen Anzahl Fälle anzunähern. Eine neulich veröffentlichte Studie in Sri Lanka brachte eine überraschend hohe Anzahl Fälle von sexueller Gewalt gegen Männer während des Bürgerkriegs (1983-2009) zum Vorschein.
Leider sind diese Methoden erst in der Wissenschaft im Gebrauch und finden in der Politik noch zu wenig Beachtung.
swissinfo.ch: Vergewaltigungen sind in Libyen momentan ein riesiges Problem, vor allem für inhaftierte Migranten. Welche Auswirkungen haben Migrationsströme auf die Dynamiken sexueller Gewalt in Konfliktgebieten?
D.C: Ohne selber das Thema Migration vertieft zu haben, scheint mir der Faktor Haft eine grosse Rolle zu spielen. Forschungen meiner Kollegen und mir zeigen, dass in Berichten über sexuelle Gewalt durch staatliche Akteure (Soldaten, Polizisten, etc.) bis zu drei Viertel der Verbrechen gegen Gefangene verübt werden.
Offensichtlich sind in diesem Kontext die Machtunterschiede und die Möglichkeiten für den Missbrauch wehrloser Menschen gewaltig. Wenn Gefangene befragt und gefoltert werden, kommen nicht selten sexuelle Gewalttaten zur Anwendung. Viele der Gefangenen sind Männer. Würde man das, was ihnen wiederfährt, Frauen antun, spräche man sofort von Vergewaltigung.
Das bringt mich wieder zu ihrer Anfangsfrage zu den politischen Massnahmen: die am wenigsten erforschten Opfer sind Männer. Im Alltag impliziert das Wort "Vergewaltigung" eine Frau in der Opferrolle. Selbstverständlich schulden wir den feministischen Aktivistinnen und Aktivisten die höchste Anerkennung dafür, dass sie das Thema überhaupt ans Licht gebracht haben und systematische Gewalt an Frauen anprangerten. Dennoch werden Vergewaltigungen immer noch zu eng als Frauenproblem angesehen.
So hoch die Dunkelziffer der Fälle bei Frauen auch sein mag, sie ist um ein Vielfaches höher bei Männern. Ich versuchte, in drei ehemaligen Bürgerkriegsländern (Sierra Leone, El Salvador, Osttimor) mit männlichen Opfern und Überlebenden zu sprechen. Ich fand keinen einzigen Probanden.
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