Die Situation auf der Krim hält die Welt weiter in Atem. Das Parlament der Region hat seinen Beitritt zu Russland erklärt, EU und die USA reagieren mit Sanktionen. Im Gespräch mit unserem Portal zeigt sich Gernot Erler, Osteuropakoordinator der Bundesregierung, äusserst besorgt über die Entwicklung und warnt: "Eine militärische Eskalation führt in eine gefährliche Selbstisolierung Russlands und wird nicht frei von Konsequenzen bleiben."

Mehr aktuelle News

Herr Erler, viele Menschen sehen in der Ukraine eine echte Kriegsgefahr. Wie bewerten Sie aktuell die Situation?

Gernot Erler: Die Lage in der Ukraine ist gegenwärtig sehr angespannt. Ich bin ausserordentlich besorgt über den Druck, den Russland mit politischen und militärischen Mitteln aufbaut und hoffe, dass alle Beteiligten das Gespräch suchen mit dem Ziel einer Deeskalation. Eine weitere Zuspitzung des regionalen Konflikts hätte fatale Folgen für ganz Europa.

Welche Auswege sehen Sie? Glauben Sie, dass UN- oder OSZE-Gesandte sich wirklich ein umfangreiches Bild auf der Krim machen können?

Angesichts widersprüchlicher, zum Teil bewusst polarisierender Darstellungen, die uns über die Vorgänge auf der Krim erreichen, benötigen wir dringend ein objektives und unvoreingenommenes Bild der Lage vor Ort. Die Meldungen, dass Gesandte der Vereinten Nationen und der OSZE an der Ausübung ihrer Mission auf der Krim gehindert worden seien, sind daher Anlass für ernsthafte Besorgnis. Die dafür Verantwortlichen sind aufgerufen, die internationalen Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Konflikts nicht zu hintertreiben.

Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat Konsequenzen in Richtung Russland angekündigt. Wie konkret könnten diese aussehen?

Nach der Sitzung des Nato-Russland-Rates am 5. März hat Generalsekretär Rasmussen angekündigt, die gesamten Beziehungen zu Russland überprüfen zu wollen. Die praktische Zusammenarbeit stehe auf dem Prüfstand, gleichzeitig bleibe die Möglichkeit des politischen Dialogs erhalten. Dies ist eine klare Botschaft an Russland.

Momentan scheinen zwei Schnellzüge aufeinander zuzurasen, auf der einen Seite der Westen, auf der anderen Putin. Welche Chancen sehen sie auf eine diplomatische Lösung in absehbarer Zeit?

Alle Akteure müssen sich weiterhin intensiv bemühen, eine diplomatische Lösung des Konflikts zu finden. Bei den zahlreichen Telefonaten und Treffen der vergangenen Tage wurden gute Vorschläge für einen politischen Ausweg aus der Krise diskutiert. Ein solcher könnte beispielsweise die Gründung einer internationalen Kontaktgruppe sein. Ich hoffe, dass die russische Seite angesichts des sich schliessenden Fensters für diplomatische Lösungen ihrer Verantwortung gerecht wird und sich konstruktiv an den Verhandlungen beteiligt.

Und wenn Russland inzwischen Fakten auf der Krim schafft wie in Georgien vor sechs Jahren?

Russland hat mehrfach öffentlich betont, dass es die territoriale Integrität der Ukraine einschliesslich der Krim nicht verletzen werde. Das Vorgehen Russlands steht dazu in klarem Widerspruch. Eine militärische Eskalation führt in eine gefährliche Selbstisolierung Russlands und wird nicht frei von Konsequenzen bleiben. Dies haben die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel am 6. März unmissverständlich klargestellt.

Stellen Sie - und damit auch die Bundesregierung – sich auch langfristig auf eine Zusammenarbeit mit einer geteilten Ukraine ein?

Nein, eine Teilung der Ukraine muss unbedingt verhindert werden. Die drängendste Herausforderung ist die Wahrung der territorialen Integrität. In einem zweiten Schritt müssen die Ursachen identifiziert und beseitigt werden, die zu der gegenwärtigen politischen und ideologischen Spaltung des Landes geführt haben. Hierzu müssen auch die EU und Russland miteinander das Gespräch suchen.

Hat die EU mit dem offensichtlichen Buhlen um die Ukraine teilweise Russlands Interessen missachtet und trägt darum Mitschuld an der momentanen Situation?

Die Nicht-Unterzeichnung des fertigen, über fünf Jahre ausgehandelten Assoziationsabkommens mit der Ukraine auf dem EU-Gipfel in Vilnius im November vergangenen Jahres ist eine Niederlage für die EU-Politik der östlichen Partnerschaft. Ich glaube, dass eine kritische Aufarbeitung dieser Niederlage und der möglichen Fehler, die da gemacht worden sind, kommen wird. Aber ich glaube nicht, dass die in der jetzigen Situation weiterhelfen. Wir brauchen jetzt vor allem eine Fokussierung auf das Ziel, Dialogkanäle zur Lösung der akuten Krise möglichst dauerhafter Art über eine Kontaktgruppe offen zu halten. Das andere muss zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Welche Rolle spielen bei Wladimir Putins Muskelspiel auch wirtschaftliche Interessen? Oder geht es um eine Art Restitution der Sowjetunion?

Wir wissen, dass Putin an die Neuordnung des postsowjetischen Raums unter der Führung Moskaus denkt. Während des vergangenen Wahlkampfes hat er die Idee einer eurasischen Union schon ziemlich konkret auf den Weg gebracht hat. Aber es ist klar, dass man eine solche Neuordnung nur im Einvernehmen mit allen anderen Ländern erreichen kann. Eine erzwungene Gemeinschaft ist nicht von Dauer - diese Erfahrung hat hoffentlich auch im Kreml genügend Anhänger.

Gernot Erler ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Staatsminister a.D., sitzt seit 1987 im Bundestag. Der 69 Jahre alte studierte Historiker, Politikwissenschaftler und Slawist war von 1998 bis 2005 sowie von 2009 bis Ende 2013 stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender sowie von 2005 bis 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt. Aktuell hat er offiziell die Funktion des Koordinators für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.