Am 4. Juli wurde Mamichan Umarow auf offener Strasse in der Nähe von Wien erschossen. Es ist bereits der dritte Mord an einem Kritiker des tschetschenischen Diktators Ramsan Kadyrow in weniger als einem Jahr – inmitten der EU. Was steckt dahinter?

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Ein Samstagabend Anfang Juli. Fünf Schüsse treffen Mamichan "Ansor" Umarow auf einem Parkplatz einer Autowerkstatt in Gerasdorf bei Wien. Der 43 Jahre alte Tschetschene, der seit 2007 in Österreich lebt und den Namen Martin Beck angenommen hat, ist sofort tot.

Die Polizei schnappt wenige Stunden später die mutmasslichen Täter – wie Umarow stammen sie aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien und lebten seit Jahren in Österreich. Ein 47-Jähriger, der nach einer Verfolgung in Linz festgenommen wird, verweigert laut Polizei die Aussage. Der zweite Angeklagte ist ein 37-Jähriger, der das Opfer zum Tatort begleitet haben soll. Beide sitzen derzeit in Untersuchungshaft in der Justizanstalt Korneuburg.

Laut Ermittlern des Landesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) Niederösterreich ist das Motiv noch nicht restlos geklärt. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. "Wir können nicht ausschliessen, dass es sich um einen Auftragsmord handelt, andererseits könnte aber auch ein Streit eskaliert sein", erklärte ein Polizeisprecher.

Für Beobachter steht jedoch schon fest: Es war ein politischer Mord, bei dem viele Spuren nach Russland führen. Es wäre nicht der erste seiner Art binnen weniger Monate. Und das mitten in Europa.

Umarow Gegner von Kadyrow: "Niemanden hat dieser Mord überrascht"

Umarow war ein erklärter Gegner des Autokraten Ramsan Kadyrow, auf YouTube etwa kritisierte er den tschetschenischen Machthaber unter dem Pseudonym "Anzor aus Wien" scharf. Die unabhängige russische Zeitung "Nowaja Gaseta" schrieb, Umarow sei ein "persönlicher Feind" Kadyrows gewesen, sein Blog sei für die "Offenheit seines Autors" bekannt.

Kadyrow ist ein enger Verbündeter von Russlands Präsident Wladimir Putin. Der 43-Jährige steht wegen schwerster Menschenrechtsverletzungen international in der Kritik und hat die Nordkaukasus-Republik quasi zu einem Privatstaat mit einer eigenen paramilitärischen Sicherheitstruppe, den sogenannten Kadyrowzy, umgebaut. Laut Menschenrechtsaktivisten hält er sich vor allem mit massiven Einschüchterungen von Gegnern, aussergerichtlichen Tötungen und Entführungen an der Macht.

"Niemanden hat dieser Mord überrascht", sagt der tschetschenische Blogger Tumso Abdurachmanow in einem auf seinem YouTube-Kanal "Abu-Saddam Shishani" veröffentlichten Video zu den tödlichen Schüssen auf Umarow. "Das ist bereits der vierte Vorfall in einem Jahr auf dem Territorium der Europäischen Union", klagt er. Wie Umarow floh Abdurachmanow aus Tschetschenien in die EU und arbeitet von dort aus gegen Kadyrow.

Abdurachmanow selbst konnte am 26. Februar diesen Jahres in seiner Wohnung in Schweden nur mit Mühe den Angriff eines Mannes mit einem Hammer abwehren, wie ein schwedischer Radiosender berichtete. Ein Russe und seine mutmassliche Komplizin wurden festgenommen. Vorfall Nummer zwei.

Tschetschenische Dissident in Frankreich erstochen

Der dritte passierte nur einen Monat zuvor: Am 30. Januar wurde die Leiche des tschetschenischen Dissidenten Mansur Alijew mit 135 Stichwunden in einem Hotelzimmer der nordfranzösischen Stadt Lille gefunden. Der 44-Jährige soll sich ebenfalls mit Kritik an Kadyrow unbeliebt gemacht haben. Das in der Regel gut informierte kaukasische Internetportal "Kawkaski Usel" berichtete, dass der mutmassliche Täter enge Kontakte zum Machtapparat in Tschetschenien habe und inzwischen wieder im Nordkaukasus sei.

Und schliesslich Nummer vier, der in Deutschland bekannteste Fall von Selimchan Changoschwili alias Tornike Kawtaradse. Der russische Staatsbürger Vadim K. tötete den 40-Jährigen am 23. August 2019 im Berliner Tiergarten laut Bundesanwaltschaft mit zwei Kopfschüssen. Sie erhob am 18. Juni vor dem Staatsschutzsenat des Kammergerichts in Berlin Anklage gegen K. Der weitreichende Vorwurf laut Anklageschrift: "Staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation erteilten dem Angeschuldigten den Auftrag, den georgischen Staatsangehörigen tschetschenischer Abstammung Tornike K. zu liquidieren."

Alle vier Attacken geschahen innerhalb von nur gut zehn Monaten. Sie trafen Kadyrow-Kritiker mit insgesamt mehreren Millionen Videoaufrufen auf YouTube (Abdurachmanow, Umarow und Alijew) und zum Teil ehemalige Rebellen (Changoschwili und Umarow), die für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gegen die russische Armee kämpften.

"Es zieht sich eine blutige Spur russischer Auftragsmorde durch Europa"

Ekkehard Maass ist Vorsitzender der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft (DKG) und war gut mit Changoschwili bekannt. Auch er selbst sei in der Vergangenheit bedroht worden, wie Maass im Gespräch mit unserer Redaktion berichtet.

Er sagt: "Die Morde haben eine lange Tradition: Es zieht sich eine blutige Spur russischer Auftragsmorde durch Europa." Die russische Duma habe schon 2006 beschlossen, dass Russland seine Feinde auch im Ausland bekämpfen dürfe. Eine Quasi-Legitimation.

Laut dem Vorsitzenden des in Wien ansässigen tschetschenischen Kulturvereins Ichkeria, Khuseyn Ishkanov, sind in Europa seit den 1990er-Jahren insgesamt 19 Tschetschenen ermordet worden, darunter auch Umar Israilow. Der 27-jährige Russlandkritiker war Hauptbelastungszeuge in einem Verfahren der österreichischen Justiz gegen Kadyrow. Er wurde am 13. Januar 2009 in Wien auf offener Strasse erschossen.

Anschläge auf Litwinenko und Skripal ähnlich wie Anschläge auf Tscheschenen

Die Staatsanwaltschaft Wien kam damals zu dem Schluss, dass der Mann zumindest mit Billigung Kadyrows verschleppt werden sollte – und dann umgebracht wurde, als das nicht klappte. Zu den ermordeten Tschetschenen kommen noch die Anschläge auf ehemalige sowjetische und russische Geheimdienstler wie Alexander Litwinenko 2006 oder Sergei Skripal 2018 in Grossbritannien.

Maass zufolge steckt nicht allein Kadyrow hinter den Angriffen auf seine tschetschenischen Landsleute. Es gebe "immer eine Zusammenarbeit mit den russischen Regierungsbehörden und Vertretern der russischen Botschaften", betont der 69-Jährige. Ohne Zustimmung und Unterstützung des russischen Geheimdienstes FSB sei das Agieren eines Killers im Ausland "nicht denkbar".

"Der Arm Kadyrows ist sehr lang", sagt Maass. Viele Kadyrow-treue Tschetschenen seien als Flüchtlinge in Westeuropa eingeschleust worden. "Personen, die hier für Kadyrow arbeiten, Politik machen, Leute ausspionieren und seine Aufträge ausführen. Diese Personen sind nicht nur für die tschetschenischen Flüchtlinge, sondern auch für die deutsche Gesellschaft gefährlich."

Die Exil-Gemeinschaft der Tschetschenen in Deutschland und Österreich ist gross. Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 sind Schätzungen zufolge zwischen 130.000 und 150.000 Menschen aus der Nordkaukasus-Republik in die EU geflohen. In den vergangenen Jahren verliessen viele vor allem wegen Machthaber Ramsan Kadyrow ihre Heimat.

Die tschetschenische Diaspora im Fadenkreuz Kadyrows

Maass' Einschätzung bestätigt auch der Kaukasus-Experte und wissenschaftliche Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, Uwe Halbach. "Kadyrow hat bei seinen Straf- und Abschreckungsmassnahmen auch die tschetschenische Diaspora in Europa ins Fadenkreuz genommen", schreibt Halbach in einer Analyse von 2018.

"Mit der Bekämpfung von Opposition greift Kadyrow weit über Tschetschenien hinaus. Wie erwähnt wurden einige seiner Gegner und Rivalen im Exil – sowohl in Russland als auch im Ausland – ermordet und ihre Angehörigen in Tschetschenien mit Sippenhaft bedroht", heisst es dort weiter.

Sowohl der DKG-Vorsitzende Maass als auch der tschetschenische Blogger Abdurachmanow kritisieren, dass in der Europäischen Union keine Massnahmen ergriffen werden, Russland von den Verbrechen auf ihren Staatsgebieten abzuhalten. Aufgrund der fehlenden Reaktionen in der Vergangenheit seien die Attacken "intensiver" geworden, erklärt Abdurachmanow.

Maass kritisiert deutsche Sicherheitsbehörden

Maass kritisiert auch die deutschen Sicherheitsbehörden: "Es gibt in Deutschland Tschetschenen, die völlig offen für Kadyrow arbeiten. Sie geniessen hier politisches Asyl, reisen aber ständig nach Tschetschenien und posieren mit Kadyrow in den sozialen Medien. Warum werden die nicht zurückgeschickt?"

Beim jüngsten Mordopfer Umarow soll es Gerüchten zufolge ein Kopfgeld in Höhe von bis zu 20 Millionen US-Dollar gegeben haben. Angesichts dessen scheint es nicht vorstellbar, einen Auftragnehmer für die Tat in der verarmten nordkaukasischen Republik oder der Diaspora zu finden – zumal der oder die Täter dort sicher vor staatlicher Verfolgung sind. Das österreichische LVT hat laut eigener Aussage die Drohungen gegen Umarow sehr ernst genommen und ihm Schutz angeboten, den er aber nur für den Wohnsitz seiner Familie angenommen habe.

In einem Interview mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin "Profil" berichtete auch einer der letzten Gesprächspartner Umarows über direkte Drohungen aus dem Umfeld Kadyrows. "Er hat mir oft erzählt, dass er bedroht wird, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ist", sagte Musa Lomajew, ein in Finnland lebender Regimegegner und Blogger. Auch Lomajew selbst sei bedroht worden: "Vor ein paar Wochen habe ich einen Brief von Leuten aus dem Umfeld von Kadyrow bekommen. Darin stand, dass das erste Ziel Ansor sei – und das zweite ich."

Morde am helllichten Tag, inmitten Europas

Lomajew macht nicht nur Kadyrow für den Mord verantwortlich, sondern auch die russische Staatsführung: "Wenn ich über Kadyrow rede, dann rede ich auch über Putin. Kadyrows Leute tun überhaupt nichts ohne die Erlaubnis der russischen Geheimdienste", erklärte der Blogger.

Recherchen des Nachrichtenmagazins würden zudem nahelegen, dass Umarow als Zuträger der österreichischen Polizei tätig war. Mehrere Quellen aus der tschetschenischen Community berichteten gegenüber "Profil" unabhängig voneinander, das nunmehrige Mordopfer habe seit Jahren als Informant für das Wiener LVT gearbeitet – etwa, indem er die Absender von Hassbotschaften, die ihn erreichten, als mögliche Kadyrow-Anhänger meldete.

Die Kritik an Kadyrow werde durch die Morde nicht abreissen, im Gegenteil, sagt Blogger Abdurachmanow. Und die Menschen, die bereits vor dem jüngsten Mord Angst hatten, würden nun noch ängstlicher sein.

Morde sind Signal an Flüchtlinge aus Tschetschenien

Genau das, sagt der DKG-Vorsitzende Maass, sei eines der Signale der Morde an die Flüchtlinge aus Tschetschenien: "Ganz egal, wo ihr euch versteckt, wir finden euch – und wen wir ermorden wollen, den ermorden wir. Ihr seid nicht sicher." Ein weiteres Ziel sei es, Folgendes zu zeigen: "Wir sind immer noch da! Wir sind ein wichtiger Staat in der Welt, man muss uns respektieren. Und wir können uns das leisten, am helllichten Tag, mitten in Europa, in Berlin, zu töten."

Kadyrow selbst weist jegliche Verwicklung in dem Fall zurück. Seine Erklärung: Umarow sei Opfer von Geheimdiensten geworden, die eine solche Tat Russland und insbesondere ihm selbst anlasten wollten.

Doch Kadyrow warnte zugleich seine Landsleute: "Werdet nicht zu Marionetten, kümmert Euch um Eure Familien. Sonst wird Euch auch solch ein Schicksal ereilen; und beschuldigt werden Kadyrow und sein Trupp", erklärte der tschetschenische Machthaber in seinem Online-Kanal im Messengerdienst Telegram. "Sobald Menschenrechtler anfangen, sich um das Leben eines Menschen zu 'sorgen', endet dieses bald", schreibt Kadyrow weiter. Dazu veröffentlichte er ein Foto von sich. Es zeigt ihn herzhaft lachend.

Verwendete Quellen:

  • Meldungen der Nachrichtenagenturen AFP und dpa
  • Washington Post: "Chechen exiles are being hunted down. Often, the trail leads back to Russia"
  • RFE/RL: "Austria Probes Checkered History Of Chechen Asylum Seeker For Clues Into Possible Political Murder"
  • Sveriges Radio: "Exclusive interview with chechen blogger that survived attempt on his life"
  • ORF: "Gerasdorf: 'Zu einhundert Prozent Auftragsmord'"
  • Profil: "Neue Hinweise auf Polithintergrund im Mordfall Umarow"
  • Telegram-Kanal von Ramsan Kadyrow
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.