Heute vor 50 Jahren - mehr als 18 Jahre nach Kriegsende - begann der erste Prozess gegen KZ-Schergen des Vernichtungslagers Auschwitz in der Bundesrepublik. Ein Gericht in Frankfurt verurteilte sechs Angeklagte zu lebenslangen Zuchthausstrafen und verhängte zehn Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren. Drei Angeklagte wurden freigesprochen - aus Mangel an Beweisen. Wir sprachen mit dem Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer (93) über den Prozess.
Herr Mannheimer, vor 50 Jahren begannen die sogenannten Auschwitz-Prozesse. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Max Mannheimer: Ich hatte damals kein Fernsehgerät und habe mich vor allem über Zeitungen informiert. Natürlich habe ich den Prozess aufmerksam verfolgt, da ich ja selbst vom 2. Februar 1943 bis 7. Oktober 1943 als jüdischer Häftling einige Verbrechen der SS-Schergen im KZ Auschwitz beobachten konnte. Die Kriegsverbrecher hatten damals sehr gewandte Verteidiger. Ein Zeuge, der über Erschiessungen durch den Angeklagten berichtete, wurde von dessen Anwalt gefragt, ob diese vormittags oder nachmittags stattgefunden hätten. Er glaube, so der Zeuge, es war am Nachmittag. Der Anwalt sah dann in einem Kalender nach und behauptete, sein Mandant habe am Nachmittag dienstfrei gehabt. Es ist doch nicht denkbar, dass der Täter in einem Kalender seine Morde dokumentiert hat. Aber mit solchen Tricks wurden die Mörder entlastet.
Wie erklären Sie es sich, dass in der DDR schon 1949 erste Prozesse gegen Verantwortliche geführt wurden, in der Bundesrepublik aber erst 14 Jahre später?
In der DDR wurden die Prozesse gegen Täter der NS-Zeit vermutlich eher geführt, um die bundesrepublikanische Justiz an den Pranger zu stellen. Ohne die Initiative des Oberstaatsanwaltes Fritz Bauer, der im schwedischen Exil sein Leben retten konnte – er war ja auch Jude – wäre es vermutlich nie zu einem Auschwitz-Prozess gekommen. Die meisten der damaligen Staatsanwälte und Richter waren ja schliesslich während der NS-Zeit aktiv gewesen. Damals war die Rede von "Nestbeschmutzung" anstatt "Gerechtigkeit".
Wie haben Sie die Urteile aufgenommen, wurde damit für Sie so etwas hergestellt wie Gerechtigkeit?
Das kann ich nicht eindeutig beantworten. Der Prozess war - vergleichbar mit dem Eichmann-Verfahren – jedenfalls mehr ein Lehrstück der Geschichte.
Für viele wirkte sich strafmildernd aus, dass sie sich auf den angeblichen Befehlsnotstand berufen haben. Konnten Sie das damals und heute nachvollziehen?
Auf Hitler vereidigt waren die Täter sicher der Meinung, nicht anders handeln zu können. Eine Verweigerung der Befehle hätte sie selbst das Leben gekostet.
Welche Erinnerungen aus Auschwitz sind Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben und beschäftigen sie noch heute?
Da ich seit 27 Jahren Vorträge in Schulen und anderen Institutionen halte, ist die Zeit in Auschwitz, wo ich sechs meiner nächsten Angehörigen verlor, immer präsent. Von Elli Wiesel, Nobelpreisträger und Auschwitz-Überlebender stammt der Spruch: "Ich habe Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat mich nicht verlassen." Bei mir ist es genauso. Für mich brach dort eine Welt zusammen aus der Verzweiflung heraus, dass Menschen, die christlich erzogen wurden, zu Massenmördern geworden sind.
In Auschwitz wurden ihre Eltern, ihre Ehefrau und ihre Geschwister von den Nazis ermordet. Sie hatten sich deshalb geschworen, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren. Warum taten Sie es dann doch?
Ende April 1945 kam ich in eine ehemalige NS-Schule für Angehörige von Nazibonzen in der Nähe von Tutzing. Die ersten Tage verbrachte ich in einem provisorischen Krankensaal. Es war ein wunderbares Gefühl, nach 27 Monaten in einem sauberen Bett zu liegen und keine Angst mehr zu haben, ermordet zu werden. Nach vier Wochen, als ich kräftig genug gewesen bin, habe ich tatsächlich geschworen, Deutschland zu verlassen und nie mehr deutschen Boden zu betreten. Ich wollte nicht unter Menschen leben, die Menschen anderen Glaubens in Gaskammern ermorden. In meiner Heimat Neutitschein (Nordmähren) besuchte ich dann einen ehemaligen tschechischen Mitschüler, der einen Grosshandel mit Obst und Gemüse als Treuhänder betrieb. Im Büro sass ein hübsches Fräulein, von dem ich annahm, dass sie Tschechin ist.
Ihre spätere Frau ...
Ja, es stellte sich heraus, dass sie eine Deutsche war, die perfekt Tschechisch sprach. Ich erfuhr, dass sie 1938, weil sie in einem sozialdemokratischen Turnverein eine Funktion hatte, die Schule verlassen musste. Sie wurde dann als Arbeitsmaid nach Ostpreussen geschickt und nach ihrer Rückkehr einem Südtiroler namens Richter, der in Neutitschein, meinem Geburtsort, einen Grosshandel mit Obst und Gemüse betrieb, durch das Arbeitsamt als Bürokraft zugeteilt. Sie lernte privat Englisch und hat britischen Kriegsgefangenen heimlich BBC-Nachrichten zugesteckt. Sie war für mich eine Heldin. Ich verliebte mich in sie und versicherte mich, das Deutschland nach dem was in der NS-Zeit passiert war, ausgezeichnete Chancen hatte, eine Demokratie zu werden. Wenn man verliebt ist, glaubt man ja eher. So betrat ich am 7. November 1946 deutschen Boden und lebe seit dem hier.
Wie sehen Sie aktuelle antisemitische Tendenzen in Deutschland?
Diese Tendenzen in Deutschland sind ziemlich konstant, haben sich möglicherweise gesteigert. Das könnte auch daran liegen, dass die Juden verantwortlich gemacht werden für die Politik Israels.
In Bayreuth hat der Stadtrat erst vergangene Woche die Ehrenbürgerwürde von Adolf Hitler aufgehoben. Wie weit ist die Bundesrepublik mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen und was muss Ihrer Meinung nach vielleicht noch passieren?
Es ist traurig, einem Massenmörder, der den Tod von mehr als 50 Millionen Menschen zu verantworten hat, so lange die Ehrenbürgerwürde zu belassen. Eine Aufklärung über die zwölf Hitlerjahre ist auch weiterhin erforderlich.
Sie wenden sich also gegen die Forderungen nach einem Schlussstrich unter die Naziverbrechen 80 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers?
Die Schlussstrichsehnsucht macht die Verbrechen nicht ungeschehen. Hitler beging am Tag meiner Befreiung, dem 30. April 1945, Selbstmord. Kein anderer Massenmörder ist trotz der langen Zeitspanne noch so in aller Munde und den Medien wie er. Die Aufhebung des Copyrights für "Mein Kampf" wird die Popularität noch steigern. So lange Hitler noch in den Hirnen der Unbelehrbaren lebt, sollten die Opfer nicht vergessen werden.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.