Keir Starmer ist jetzt seit knapp 100 Tagen Chef der britischen Labour-Partei. Die Briten trauen ihm einer Umfrage zufolge das Amt des Premierministers mittlerweile mehr zu als dem Amtsinhaber Boris Johnson. Das liegt unter anderem an dem chaotischen Umgang der Regierung mit der Coronavirus-Pandemie.

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Johlen, Gelächter und Zwischenrufe: So ausgefeilt die Reden im britischen Parlament zuweilen sind, so rüde ist das Verhalten des Publikums.

Die wöchentliche Fragestunde gerät so nicht nur zum Kräftemessen zwischen dem Premierminister und seinem Herausforderer, sondern auch zum Lautstärke-Wettkampf zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen.

Ein kompetenter Anführer und ein Entertainer

Mit der überwältigenden Mehrheit für seine Konservative Partei im Unterhaus wäre Premierminister Boris Johnson hier automatisch im Vorteil gegenüber dem Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei.

Doch die Coronavirus-Pandemie hat wie so vieles auch das verändert: Viele Sitze auf den mit grünem Leder bezogenen Bänken müssen in diesen Tage leer bleiben.

Für Johnson ist das ein echtes Problem, denn seine Auftritte leben von den Pointen und Sticheleien, die wie in einer amerikanischen Sitcom stets von Reaktionen des Publikums begleitet werden. Darauf muss er nun verzichten.

Starmer hingegen, ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt und Chef-Ankläger, ist ein Meister fein ziselierter Argumente. Er ist beileibe kein charismatischer Politiker. Doch er dürfte möglicherweise nicht zu Unrecht darauf spekulieren, dass sich die Menschen in Krisenzeiten mehr nach einem politischen Anführer mit Kompetenz als einem mit Entertainer-Qualitäten sehnen.

Boris Johnson hat ihm nicht mehr viel entgegenzusetzen

Am Montag sind es 100 Tage, dass Starmer im Amt ist, und er hat es bereits geschafft, Johnson in einer Umfrage zu überflügeln. Demnach trauen ihm 37 Prozent der Briten den Job des Premiers zu. Den Amtsinhaber Johnson halten hingegen nur 35 Prozent für die bessere Wahl.

Selbst der ehemalige Labour-Chef Ed Miliband gab zu, dass Starmer bereits jetzt ein besserer Oppositionsführer ist, als er selbst jemals war. "Definitiv, ich glaube, das haben wir jetzt schon gesehen", sagte Miliband dazu kürzlich in einem BBC-Interview.

Nach anfänglicher Zurückhaltung greift Starmer den chaotischen Umgang der konservativen Regierung mit der Coronakrise nun immer deutlicher an - und Johnson hat ihm nicht viel entgegenzusetzen.

Grossbritannien ist mit mehr als 44.500 Todesfällen nachweislich Infizierter das von der Pandemie am stärksten betroffene Land Europas und es gibt immer mehr Hinweise, dass die Regierung diese furchtbare Bilanz mit zu verantworten hat.

Premierminister wirkt häufig aufgebracht

Wo das versprochene Weltklasse-Kontaktverfolgungssystem sei, will Starmer beispielsweise wissen. "Wann werden wir eine funktionierende App haben?"

Und wann werde die Regierung zugeben, dass sie mit der Verlegung von Menschen aus Krankenhäusern in Pflegeheime, ohne sie vorher zu testen, einen Fehler gemacht habe, der Tausende das Leben kostete?

Johnson wirkt dann häufig aufgebracht, baut sich hinter der Truhe auf, die im Unterhaus als Rednerpult dient, und poltert herum. Seine Standard-Replik ist der Vorwurf, Starmer wolle die Corona-Massnahmen der Regierung sabotieren, sei unpatriotisch.

Das ist eine Taktik, die bei Starmers direktem Vorgänger, Jeremy Corbyn, hervorragend verfing. Der Altlinke wirkte geradezu hilflos gegen die Vorwürfe, er sei ein Russland-Sympathisant, Kommunist und Komplize aller Feinde Grossbritanniens.

Keir Starmer distanziert sich immer deutlicher von Jeremy Corbyn

An Starmer perlt diese Art Rhetorik jedoch ab. Der ehemalige Chefankläger des Crown Prosecution Service bleibt stets ruhig - und bringt den nächsten Kritikpunkt vor, als verlese er eine Anklageschrift. Von Corbyn distanziert er sich immer deutlicher.

Dessen politische Ziehtochter Rebecca Long-Bailey warf er kurzerhand aus seinem Schattenkabinett, als sie ein Interview mit einer antisemitischen Botschaft auf ihrem Twitter-Account teilte. Nach Jahren der Dominanz der Linken, die immer wieder wegen des Vorwurfs antisemitischer Tendenzen in die Kritik geriet, führt Starmer eine Partei wieder in die politische Mitte.

Mit sozialpolitischen Forderungen ist wohl in Zeiten nie dagewesener staatlicher Intervention ohnehin nicht viel zu gewinnen. Starmer scheint auf die Formel zu setzen: "Wahlen werden nicht von der Opposition gewonnen, sondern von der Regierung verloren."

Die nächste Parlamentswahl ist zwar noch viereinhalb Jahre entfernt, doch die britischen Sozialdemokraten haben erstmals seit Langem wieder einen Anführer, der das Zeug zum Regierungschef hat. (ff/dpa)

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