Seit Wochen gibt es in Israel Demonstrationen gegen die von der dortigen Regierung geplante Justizreform. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Einen Vermittlungsvorschlag des israelischen Staatspräsidenten hat Ministerpräsident Netanjahu bereits abgelehnt. Ein Experte für israelische Innenpolitik erklärt, welche Gruppen in Israel miteinander ringen und welche dramatischen Folgen eine Umsetzung der Reform hätte.
Die Gruppen, welche die Regierung Netanjahu tragen, hätten das Ziel, "die unabhängige Justiz zu schwächen, um politische Ziele durchzusetzen", sagt Steffen Hagemann, Israel-Experte und Politikwissenschaftler an der Universität Kaiserslautern-Landau. Neben einer allgemeinen "anti-liberalen Agenda" verfolgten die einzelnen Akteure in der Regierung nach Ansicht des Experten einzelne gezielte Interessen mit ihrem Vorhaben.
So sei es Ziel der Ultraorthodoxen in der Regierung, eine Befreiung vom Militärdienst durchzusetzen, wogegen sich bisher das Oberste Gericht gestellt hat. Netanjahu selbst wolle dem Korruptionsprozess, der gegen ihn läuft, entkommen, erklärt Hagemann.
Israelisches Oberstes Gericht "wesentliche Schutzinstanz" für Minderheiten
Das Oberste Gericht in Israel war bisher in der Lage, Gesetze des Parlaments, der Knesset, aufzuheben. Die Justizreform soll dies nach Informationen des ZDF ändern. Eine Mehrheit im Parlament soll künftig, so die Pläne der Regierung, Entscheidungen des Gerichts wieder aufheben können. Dafür reicht dann bereits eine einfache Mehrheit aus.
Ebenfalls im Zuge der Justizreform geändert werden soll das Verfahren zur Wahl von Richterinnen und Richtern. Bisher findet dies durch ein Gremium bestehend aus Vertretern von Parlament, Regierung, Anwaltskammer und Richterschaft statt. Künftig sollen politische Akteure mehr Gewicht innerhalb dieses Gremiums erhalten.
Eine Regelung der Reform sieht nach Informationen von Tagesschau.de zudem vor, dass ein Ministerpräsident nur noch aus körperlichen und geistigen Gründen des Amtes enthoben werden könnte. Bisher sind auch andere Gründe möglich.
Eine Eigenheit des israelischen politischen Systems führe dazu, dass die Auswirkungen der Reformen in Israel besonders weitreichend sein würden, erklärt Steffen Hagemann. Denn der Staat habe keine Verfassung und nur eine Parlamentskammer. Der Oberste Gerichtshof sei somit "eine wesentliche Schutzinstanz für Menschen- und Bürgerrechte in Israel", sagt der Experte der Universität Kaiserslautern-Landau.
Israelischer Staatspräsident will vermitteln – Regierung Netanjahu lehnt ab
Mittlerweile hat sich sogar der israelische Präsident Jitzchak Herzog zu Wort gemeldet. Das Amt des Staatspräsidenten in Israel ist eigentlich ähnlich repräsentativ gestaltet wie des Bundespräsidenten in Deutschland. Doch Herzog hat sich kürzlich mit drastischen Worten geäussert: "Wir sind in einer schlimmen, sehr schlimmen Lage", zitiert ihn der "Spiegel".
Herzog brachte daraufhin einen Kompromissvorschlag in die Debatte ein, den Netanjahu allerdings bereits abgelehnt hat. Dieser sei "einseitig" und finde innerhalb seiner Koalition keine Zustimmung, so der Ministerpräsident nach Informationen der "Zeit".
Demgegenüber habe die Regierung sich den Zeitplan für ihr weiteres Vorgehen eng gesteckt, glaubt Steffen Hagemann. So geht der Forscher davon aus, dass Netanjahu bis zur Pessach-Pause in zwei Wochen das Gesetz durchgesetzt haben will. Bis dahin, so sagt Hagemann, könnte sich die Lage weiter zuspitzen. Denn im Gegensatz zur Regierungspartei Netanjahus, dem Likud, habe die Opposition gegenüber dem Vorschlag des Staatspräsidenten Zustimmung signalisiert.
Nach Einschätzung von Steffen Hagemann gebe es auch in Netanjahus Partei durchaus Personen, die für einen Kompromiss bereit seien. Dies könnte auch für Netanjahu selbst gelten, glaubt der Israel-Experte, doch sei es nicht unwahrscheinlich, dass vor allem sein Justizminister und seine Koalitionspartner bisher jeden Kompromiss ablehnen würden.
Israelische Gesellschaft ist in der Frage der Justizreform zerrissen
Wie tief die Auseinandersetzung in die israelische Gesellschaft hineinreicht, zeigt sich auch daran, welche Gruppen in welchem Masse an den Protesten beteiligt sind. Marginalisierte Gruppen und solche in der israelischen Peripherie seien kaum bei den Demonstrationen vertreten, erklärt Hagemann. Dies seien die Akteure, auf die Netanjahu setze.
Doch eindeutig in liberale und konservative Gruppen gespalten sei die Gesellschaft nicht. Demnach gäbe es auch unter Konservativen Kritiker der Reform, denen ein funktionierender Rechtsstaat wichtig sei und die eine weitere Polarisierung im Land verhindern wollten.
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Mittlerweile haben auch wichtige Akteure der Wirtschaft Position bezogen. Die Hightech-Industrie sei Hagemann zufolge sehr kritisch gegenüber der Reform eingestellt. Die israelische Zentralbank warne vor einer Wirtschaftskrise. Und die Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen hätten sich dem Kompromissvorschlag des israelischen Präsidenten angeschlossen.
"Sollten die Reformen wie geplant umgesetzt werden, droht Israel eine Verfassungskrise", sagt Steffen Hagemann. Dann würde sich die Opposition vor dem Obersten Gericht dagegen wehren, erwartet der Experte. Die Regierung könnte dann versucht sein, sich gemäss ihrer Reform über eine mögliche Entscheidung des Gerichts hinwegzusetzen und neue Richter ernennen. Dann bleibe unklar, so Hagemann, wem gegenüber die einzelnen Institutionen und Personen sich dann loyal verhalten würden.
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