Der "Sprachenstreit" in der Schweiz eskaliert: Bildungsminister Alain Berset stellt den Kantonen ein Ultimatum bezüglich Fremdsprachenunterricht in der Primarschule. Die kantonalen Bildungsdirektoren reagieren verschnupft ob diesem Eingriff in ihre Bildungshoheit. Die Presse ist geteilter Meinung.
2004 legten die Kantone in ihrer Sprachenstrategie fest, dass alle Primarschüler ab der 3. Klasse eine erste und ab der 5. Klasse eine zweite Fremdsprache lernen. Eine davon muss eine der vier Landessprachen der Schweiz sein.
Während sich alle fünf französischsprachigen Kantone an die Strategie halten und ab der 3. Klasse Deutsch als Fremdsprache unterrichten, weichen einige Deutschschweizer Kantone vom Plan ab und unterrichten an der Primarschule bloss Englisch als Fremdsprache.
Dem Beherrschen der Landessprachen wird in der Schweiz grossen Stellenwert eingeräumt. Mehrsprachigkeit gilt in der viersprachigen Schweiz (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) als wichtig für den nationalen Zusammenhalt.
Nun hat Bildungsminister Alain Berset die Nase voll von den widerspenstigen Deutschschweizern: Wenn die Kantone die Sprachenstrategie nicht umsetzen, sprich, bereits in der Primarschule eine zweite Landessprache unterrichten, zwingt der Bund sie mittels einer Revision des Sprachengesetzes dazu. Am Mittwoch stellte der Bundesrat drei entsprechende Gesetzesentwürfe vor, zu denen sich die Kantone bis Mitte Oktober vernehmen lassen können.
Die Kantone seien zwar für die Bildung zuständig, sagte Berset gegenüber den Medien. Föderalismus bedeute aber nicht, dass jeder Kanton machen könne, was er wolle, ohne die Auswirkungen auf das Land zu berücksichtigen.
Verärgerte Kantone
Die Kantone sind über diesen Erpressungsversuch des Bundesrates "not amused". Der Thurgauer Regierungsrat (Kantonsregierung) schreibt in einer Mitteilung, er sei enttäuscht: "Mit diesem Schritt greift der Bund unverhältnismässig in die Bildungshoheit der Kantone und in unser föderales Staatssystem ein."
Der Erziehungsdirektor des Kantons Appenzell-Innerrhoden, Roland Inauen, sagte gegenüber der "Neuen Zürcher Zeitung", es gebe keinen Anlass, dass der Bund das Heft in die Hand nehme. Ein Referendum gegen die allfällige Revision des Sprachengesetzes wäre "so gut wie sicher".
Auch die Direktion der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) will, dass die Kantone das Zepter in der Hand behalten. Der Präsident der EDK, Christoph Eymann, sagte gegenüber dem Tages-Anzeiger: "Wir sind besorgt, dass nun ein interventionistischer Geist in die Sprachenfrage gebracht wird." Das sei heikel. Als Nebenwirkung könnten die Kantone noch stärker auf den Föderalismus pochen. "Ich rechne mit einem Aufschrei in den Kantonen."
Die Presse spottet
Auch die Schweizer Presse reagiert teilweise skeptisch auf den Druckversuch des Bildungsministers. Der Chefredaktor des Tages-Anzeigers, Arthur Rutishauser, schreibt in einem Kommentar: "Selten gab es eine schwächere Begründung für eine zentralstaatliche Intervention." Künftig gehörten jene [Deutschschweizer] Kantone zu den Guten, die ab der 5. Primarschulklasse zwei Stunden pro Woche Französisch für obligatorisch erklärten. Ob die Schüler danach auch die Sprache sprechen könnten, sei egal. "In französischer Zentralstaatsmanier versucht man das Pferd von hinten aufzuzäumen", mokiert sich Rutishauser.
Auch das Boulevardblatt "Blick" macht sich über den Bundesrat lustig: "Frühfranzösisch?" fragt der Bundeshausredaktor. "Ich kenne das. Zwei Jahre sangen wir 'Frère Jacques' und 'Le Coq est mort'. Tolle Bildung!" Bersets Frühfranzösisch-Zwang sei ideologisch, unwissenschaftlich und undemokratisch.
Die Zeitung "Der Bund" hingegen findet es gut, dass der Bundesrat eingreift. Die Mehrsprachigkeit sei Teil der nationalen Identität, was keine Selbstverständlichkeit sei: "Denn Sprachgrenzen wirken naturgemäss selten verbindend, das zeigen unzählige historische und aktuelle Beispiele." Französisch erst ab der Oberstufe zu unterrichten, sende völlig falsche Signale aus. "Es wäre ein langsam wirkendes Gift für die Willensnation Schweiz."
Auch Westschweizer Zeitungen begrüssen die bundesrätliche Intervention. Die "Tribune de Genève" schreibt, ohne das Eingreifen der Bundesregierung wäre ein Dominoeffekt zu befürchten bei Kantonen, die der Wirtschaft mehr zugetan seien als dem nationalen Zusammenhalt. Laut "Le Temps" hat der Bundesrat den Deutschschweizer Kantonen die gelbe Karte gezeigt. Zwar solle sich der Bund so wenig wie möglich einmischen, doch die Kantone müssten nun Verantwortung übernehmen.
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