- Funktioniert die Öffnung des Einzelhandels und der Gastronomie, wenn man nur ausreichend testet?
- Ja, sagt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer und führt in seiner Stadt einen bundesweit Beachtung findenden Modellversuch durch.
- Nein, sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach - und verweist auf die auch im Landkreis Tübingen deutlich ansteigenden Inzidenzen.
Nach Zweifeln an einem Erfolg des bundesweit beachteten Modellprojekts in Tübingen mit Öffnungsschritten und verstärkten Tests fordert der SPD-Gesundheitsexperte
"Sie geben das falsche Signal", schrieb Lauterbach am Dienstag auf Twitter. Das Tübinger Projekt zeige, dass unsystematisches Testen mit Öffnungsstrategien die schwere dritte Corona-Welle nicht aufhalten werde.
Lauterbach kritisiert Tübinger Modell: "'Testen statt Lockdown' ist Wunschdenken"
"'Testen statt Lockdown' ist Wunschdenken, genau wie 'Abnehmen durch Essen'", schrieb der SPD-Politiker.
Mit Blick auf die Zahlen im Landkreis Tübingen plädierte er für eine Ausgangsbeschränkung und die "Notbremse", um das Wachstum der Sieben-Tage-Inzidenz zu stoppen. Sie misst die Zahl der registrierten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche.
Ausserdem müsse es möglich werden, Cluster über die Pflicht zur Testung in Betrieben und Schulen schnell zu erkennen. "So schafft man die Voraussetzung für Lockerungen", twitterte der Bundestagsabgeordnete.
Lauterbach ist bekannt für seine Kritik am Tübinger Sonderweg. Tübingens Oberbürgermeister
Das Stadtoberhaupt hatte am Montagabend aber auch eingeräumt, in der Modellkommune Tübingen seien die Corona-Fallzahlen ebenfalls stark gestiegen.
Der Anstieg sei jedoch in etwa so hoch wie dort, wo mit Schliessungen gearbeitet werde, hatte der OB gesagt. Der Anstieg mache ihm keine Sorgen. Am 30. März 2021 lag die Inzidenz für den Landkreis Tübingen bei 104,1.
Palmer: Gründe für Anstieg sind vielfältig
In Tübingen läuft seit Mitte März ein Modellprojekt zu mehr Öffnungsschritten in Corona-Zeiten. An neun Teststationen können die Menschen kostenlose Tests machen, das Ergebnis wird bescheinigt. Damit kann man in Läden, zum Friseur oder auch in Theater und Museen.
Auf die Berichterstattung über das angeblich zu scheitern drohende Tübinger Modell reagierte Palmer mit einem neuerlichen Facebook-Post am Dienstagmittag, in dem er die seiner Meinung nach verantwortlichen Auslöser für die steigende Inzidenz darlegt.
Wegen seines Modells erhalte er auch Morddrohungen, sagte Palmer in einer Online-Gesprächsrunde mit Wissenschaftlern am Montagabend in Tübingen. Viele wünschten sich, dass das Projekt scheitere. Wegen Morddrohungen gegen ihn gebe es bereits eine dreistellige Zahl an Verfahren bei der Staatsanwaltschaft.
Insbesondere die Äusserungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag seien so verstanden worden, dass sie auch das Tübinger Modell in Frage gestellt habe, sagte Palmer.
Die Kanzlerin hatte sich in der ARD-Sendung "Anne Will" kritisch gegenüber Öffnungsschritten gezeigt und angedeutet, dass notfalls der Bund tätig werden könnte, wenn die Länder nicht handelten. Mehrere Länder wollen derzeit Modellprojekte mit Lockerungen starten.
Partys als Auslöser für gestiegene Inzidenzen?
Den "Stuttgarter Nachrichten" und der "Stuttgarter Zeitung" (Dienstag) sagte Palmer, die Sieben-Tage-Inzidenz in Tübingen sei bis Sonntag auf 66,7 gestiegen. Am vergangenen Donnerstag hatte der Wert nach Angaben der Stadt noch bei 35 gelegen und hätte sich damit innerhalb weniger Tage fast verdoppelt.
Ihm mache das keine Sorgen, sagte Palmer den Zeitungen. Der Anstieg gehe eher nicht aufs Einkaufen oder den Theaterbesuch zurück.
Problematisch seien jene, die abends in der Stadt Party machten. Es sei aber jederzeit möglich die Reissleine zu ziehen. "Das ist ein Experiment mit offenem Ausgang", so Palmer. (hub/dpa)
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