Lothar de Maizière war einer der Protagonisten der deutschen Wiedervereinigung. Als erster frei gewählter und gleichzeitig letzter Ministerpräsident der DDR war er hautnah dabei, als die Mauer fiel und das geteilte Deutschland anschliessend zusammenwuchs. Wir haben mit ihm über die DDR und die von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" gesprochen.

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Herr De Maizière, wie haben Sie persönlich den 9. November 1989 erlebt?

Ich war im Französischen Dom am Gendarmenmarkt. Da war eine Veranstaltung zum Thema, wie geht es weiter in diesem Land. Wir alle wussten ja, so kann es nicht weitergehen. Alle Parteien und neuen Organisationen sollten sich da äussern. Und in diese Veranstaltung hinein kam ein junger Mann und sagte, "Die Mauer ist gefallen". Ich dachte, jetzt rennen sie alle auseinander, war aber nicht so. Erst nach dem Ende der Veranstaltungen gingen alle. Die meisten sind zur Mauer, ich bin aber nach Hause und habe die ganze Zeit nur gedacht, "Hoffentlich geht das gut". Ich hab mir nicht vorstellen können, dass das kampflos geschieht.

Haben Sie auch positive Erinnerungen an die DDR?

An einer Gedenkstätte wie hier (Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Strasse; Anm.d.Red.) denkt man natürlich an die Mauer, aber es gab ja auch normales Leben in der DDR, und das will ich auch nicht missen. Ich habe drei Kinder in der DDR bekommen, und es lässt sich nicht nur auf die unangenehmen Seiten reduzieren. Auch wenn es natürlich so war, dass es Unfreiheit gab, dass man nicht die Literatur lesen konnte, die man wollte. In meinem ersten Leben, als ich Musik studiert habe, durfte man bestimmte Komponisten nicht spielen. Aber die DDR war ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens, als sie gegründet wurde, war ich neun, als sie zu Ende ging, war ich 50, und ich kann nicht 41 Jahre meines Lebens wegschmeissen.

Warum ist es auch heute noch wichtig, an den Mauerfall zu erinnern?

Um zu zeigen, wie ideologische Verblendung ein Volk teilen kann. Gerade hier in Berlin wird eine Menge getan. Ich finde es aber viel interessanter, wenn sich heute noch Schulklassen damit befassen. Andererseits merkt man auch an den heutigen Abiturienten, wie weit weg das ist. Die können sich das überhaupt nicht mehr vorstellen. Ich persönlich bin nach dem Mauerfall ja immer noch "nach drüben" gefahren. Jetzt fahre ich von Mitte nach Charlottenburg.

Wie würden Sie das jemandem beschreiben, der nach dem Mauerfall geboren ist? Kann man die Dimension des Mauerfalls dann überhaupt verstehen?

Nein, das kann man nicht verstehen. Zumal die Berliner in ihrer Wut auf die Mauer sie fast gänzlich entfernt haben. Vieles von dem, was man sieht, ist künstlich nachgebildet worden. Das Brutale der Mauer, mit den Postenwegen und Hundelaufstrecken, das ist kaum mehr darstellbar.

Sie haben vorhin* gesagt: "Wer die blühenden Landschaften heute nicht sieht, der ist blind, blöd oder böswillig." 25 Jahre nach dem Mauerfall – was ist gut, was ist schlecht?

Na ja, Helmut Kohl hat ja damals gesagt, in fünf Jahren werden es blühende Landschaften sein. Das hat länger gedauert. War auch ein wenig leichtsinnig, das zu sagen. Aber wir haben den Osten Deutschlands wieder aufgebaut. Wir haben die modernste Infrastruktur in Europa. Haben moderne Universitäten und Krankenhäuser. Allein die Tatsache, dass sich die Lebenserwartung der Menschen im Osten um acht Jahre erhöht hat, dank besserer Versorgung, dank besserer Ernährung, das ist alles in Ordnung, finde ich.

Es gibt aber immer noch unterschiedliche Befindlichkeiten. Es gibt immer noch die Begriffe "Ossi" und "Wessi". Ich hätte nicht gedacht, dass sich das so lange hält, aber es sind in den knapp 45 Jahren auch unterschiedliche Kulturen entstanden und das wird sich wahrscheinlich auch erst in einer weiteren Generation auswachsen.

Also würden Sie sagen, ganz zusammengewachsen ist Deutschland noch nicht?

Na ja, wenn Sie so wollen, ist das Glas nicht halb leer oder halb voll, sondern dreiviertel voll.

*Wir haben mit Lothar de Maizière am Rande der Veranstaltung Friedensbrot gesprochen. Für dieses Projekt wurde auf dem ehemaligen Todestreifen an der Bernauer Strasse mitten in Berlin ein Roggenfeld angebaut. Das Saatgut wurde in zahlreiche Länder aus dem ehemaligen Ostblock verschickt. Aus dem dort angebauten Roggen wurde 2014 das "Friedensbrot" gebacken.
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