Was dem kriselnden Sahelstaat Niger droht, ist im Nachbarstaat Mali seit Jahren Realität. Chaos regiert das Land, es herrscht Krieg; die politischen Führer üben sich in Korruption und Machterhalt, anstatt ihrem Volk zu dienen. Mali ist zum "Failed State", zum gescheiterten Staat, verkommen. Wie konnte es so weit kommen?

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Ein „Failed State“ bezeichnet laut Bundeszentrale für politische Bildung einen Staat, der aufgrund verfallender staatlicher Einrichtungen wie Regierung, Behörden, Polizei nicht mehr in der Lage ist, grundlegende staatliche Aufgaben zu erfüllen. Zur Einordnung: Es ist ein vom Westen benutzter Terminus, um seine Idee von stabiler staatlicher Entität zu legitimieren und weltweit durchzusetzen.

Vor Jahrzehnten war der westafrikanische Binnenstaat Mali noch so etwas wie der "demokratische Vorzeigestaat" in der riesigen Sahelregion, die sich von Mauretanien über Teile des Senegals, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad bis nach Sudan erstreckt.

Wie wurde Mali zu dem, was es heute ist?

Der Niedergang der einstigen anerkannten westafrikansichen Regionalmacht Mali wurde seit der westlichen Intervention in Libyen weitgehend eingeleitet. Unzählige Waffen und militante Islamisten aus dem Maghreb, vorwiegend aus dem Bürgerkriegsland Libyen und dem Wüstenstaat Algerien, infiltrierten vor allem den Norden, der bereits seit vielen Jahrzehnten kaum von der Zentralregierung in Bamako kontrolliert wird und schwer umkämpft ist.

Radikale Ideologie und antiwestliche Ressentiments paarten sich mit Perspektivlosigkeit. Insbesondere junge Malier waren und sind empfänglich dafür.

Im Norden Malis gab es lange vor dem Abzug der einstigen Kolonialmacht Frankreich vor mehr als 60 Jahren starke Autonomiebestrebungen seitens der Tuareg-Bewegung. Das muslimische Nomadenvolk der Tuareg, galten einst als Piraten der Wüste. Sie zählen zu den Berbern und sind wie kein anderes nordafrikanisches Volk mit der Wüste und dem Sahel vertraut. Einst überfielen sie die grossen Handelskarawanen, die Gewürze, Gold und Salz durch die Sahara transportierten. Noch heute betreiben einige Tuareg den Salzhandel.

Interventionen ohne Erfolg

Seit 2012 rutschte Mali sukzessive ab, obgleich durch französische Militärintervention eine kurzfristige Befriedung und Stabilisierung erzielt worden war; diese Mission wurde anfangs von der malischen Bevölkerung goutiert, um die Islamisten zu verdrängen.

Der "Frieden" war nicht langfristig. Schnell bildeten sich neue Terrorstrukturen und militante Gruppen im Vielvölkerstaat Mali mit seinen knapp 20 Millionen Einwohnern. Es kam schnell Unmut über die "Besatzermacht" Frankreich auf, die nicht dauerhaft Frieden brachte und die stets im Verdacht stand, lediglich Partikularinteressen zu verfolgen. Zudem sollen die Franzosen im kolonialen Gebaren die malische Armee wie Befehlsempfänger behandelt haben.

Die neuesten Entwicklungen bis hin zum Abzug der französischen und – bald anstehend – auch der deutschen Armee sowie der UN-Blauhelme, die eigentlich den Friedensprozess stärken und begleiten sollten, haben Mali noch weiter destabilisiert, genauso wie diplomatische Streitigkeiten und zahlreiche Scharmützel.

"Durch den Abzug der UN-Blauhelme droht eine Ausweitung des aktuellen Bürgerkriegs", erklärt Matthias Basedau von der Universität Hamburg unserer Redaktion. Unterdessen machen die Russen in Mali weiter. Der Politikprofessor mit Fokus auf den Sahel schätzt das russische Engagement durch die hochumstrittene Wagner-Gruppe als kritisch ein. "Es sieht eher nicht danach aus, dass die Russen für mehr Sicherheit sorgen können."

Nun soll passiert sein, was bereits 2012 geschehen war. Islamistische Terroristen sollen sich mit den Tuareg-Milizen vereint haben. Die Grenzen sind oft fliessend und Anwerbeversuche seitens der Islamisten oft lukrativ, nicht selten spielen Geldzahlungen eine Rolle. "Die Tuareg sind sich auch nicht einig", das komme erleichternd für die Islamisten hinzu, erklärt Matthias Basedau. Er spricht davon, dass der einstige sogenannte Mali-Aufstand von 2012 von Dschihadisten gekapert worden sei.

Die UN in New York warnten jüngst vor einer Ausbreitung der Terrorgruppen. Es heisst etwa bei der "taz", dass in weniger als einem Jahr der „Islamische Staat der grösseren Sahara“ (ISGS) die von ihm kontrollierte Fläche praktisch verdoppelt hat. Die Stadt Timbuktu im Norden Malis stehe im Fokus –wie bereits 2012. „Timbuktu ist abgeriegelt. Man kommt gar nicht mehr hin“, sagt der malische Journalist Khader Touré gegenüber der "taz". Die Versorgung mit Lebensmitteln wird laut Touré zunehmend komplizierter. Unterstützung würde viele Bedürftige gar nicht mehr erreichen.

Experte: "In Mali herrscht seit 2012 Krieg"

Aktuell wird zudem der Konflikt mit den Tuareg-Milizen heftiger, der ebenfalls im bevölkerungsarmen, wüstenartigen Norden tobt. Malis Streitkräften kämpfen hier – auch in der Luft – gegen die einstigen Tuareg-Rebellen, die sich zur Koordination der Azawad-Bewegungen (CMA) zusammengeschlossen haben. Sie streben nach Unabhängigkeit und einem eigenen Staat.

Hauptstreitpunkt beider Konfliktparteien: Die angebliche Nichteinhaltung eines Friedensabkommen von 2015 zwischen Malis damaliger Regierung unter Präsident Ibrahim Boubacar Keita und den Rebellen. Ihrerseits dementieren die Tuareg, sich wieder mit Dschihadisten zusammengeschlossen zu haben. Laut Basedau eine Lüge.

"In Mali herrscht seit 2012 Krieg", sagt Claus-Dieter König, Regionalleiter "Westafrika" der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Dakar, Senegal. "Was derzeit droht, ist eine Wiederaufnahme intensiver Kampfhandlungen zwischen CMA und der malischen Armee."

Neben mangelnder Nahrungsmittelversorgung im Norden, Krieg und Terror herrscht auch eine starke politische Unsicherheit in Mali. Sie paralysiert das Land, vor allem seit den Putschen von 2020 und 2021.

Ende September wurde bekannt, dass die für diesen Oktober anberaumte Parlamentswahl und die im Februar kommenden Jahres geplante Präsidentschaftswahl "aus technischen Gründen" verschoben werden müssen. Das teilte die Übergangsregierung in der Hauptstadt Bamako mit. Als Gründe wurden die Aktualisierung der Wählerliste sowie Probleme mit einer Zensusdatenbank angeführt. Ein neues Wahldatum solle zu einem späteren Zeitpunkt verkündet werden. Anders gesagt: Die Wahlen, die die Militärherrschaft unter Juntachef Assimi Goita beenden sollen, finden erst einmal nicht statt.

Passend dazu ist die Rede davon, dass Goita die Wandlung vom Putschisten zum Demokraten nicht vollziehen will. Er hatte noch nicht einmal seine Kandidatur für die Präsidentenwahl erklärt, dafür hätte er nämlich zurücktreten müssen als Staatschef, eine zentrale Voraussetzung für die Wahl 2024.

Machthaber Goita tritt nicht ab

Interessant: Die Wahlverschiebung liegt offiziellen malischen Angaben zufolge an einer französischen Firma. Sie habe die nötigen Meldedaten, stellt diese aber nicht zur Verfügung. Die Firma namens Idemia soll in der Bretagne sitzen. Sie verlange umgerechnet etwa acht Millionen Euro aus einer ausstehenden Rechnung von Mali und bunkere so lange als Pfand die Daten, die es brauche, um das malische Wahlregister zu aktualisieren, heisst es.

Es ist jedoch eher eine fadenscheinige Erklärung, denn Malis Verfassungsreferendum von vergangenem Juni fusst auf derselben Datengrundlage, die man heute hat. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Goita einfach nicht abtreten möchte. Ein typisches Phänomen in Afrika.

So scheint sich Mali noch lange in den Zwängen des Machthabers und seiner "Waffenbrüder" zu befinden. Eine Befriedung und Entspannung steht nicht bevor. Menschen sind desillusioniert und vertrauen den Politikern nicht mehr, die frühere demokratische Ordnung existiert nicht mehr, die dürftige Infrastruktur zerfällt weiter, weil sie kaum ertüchtigt wird. Jobs sind Mangelware.

Die Bevölkerung ist jung und perspektivlos. Sie will so schnell wie möglich weg, nach Europa. Dazu kommen noch die Folgen des Klimawandels. Mali braucht Hilfe, setzt aber auf die falschen Unterstützer - aus Russland - und isoliert sich zunehmend, auch innerhalb der westafrikanischen Staatengemeinschaft Ecowas. Malis Aussichten sind düster. Mali ist und bleibt ein "Failed State".

Über die Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Matthias Basedau ist Politikwissenschaftler am German Institute of Global and Area Studies für Afrika-Studien in Hamburg. Seit 2018 ist er dessen Direktor.
  • Claus-Dieter König ist langjähriger Leiter des Regionalbüros „Westafrika“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Sitz in Dakar, Senegal.


Verwendete Quellen:

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