Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte kämpft auf dem EU-Gipfel geschickt gegen die Schuldenunion und das unkontrollierte Geldverteilen. Dabei wächst er zum selbstbewussten Wortführer heran, der Emmanuel Macron und Angela Merkel in die Schranken weist.
Emmanuel Macron tobte vor Wut. Dieser Holländer sei der neue Brite der Europäischen Union: Wie ein Boris Johnson, nur mit Manieren. Die italienische Delegation pöbelte ihn als "Erpresser" an. Griechische Diplomaten schimpften ihn "den neuen Schäuble", der mit überstrenger Disziplin Europa finanziell solide halten wolle.
Das Machtgefüge in der EU hat sich durchen Gipfel verändert
Tatsächlich hat Rutte den EU-Gipfel massgeblich geprägt. Der niederländische Regierungschef verkörpert eine freundliche Bestimmtheit, sagen seine nordischen Zöglinge. Die Südeuropäer verunglimpfen ihn eher als beinharten Geizkragen.
Rutte hat mit seinen unverblümten Verhandlungen nicht nur die doppelt tiefen Gräben der EU (zwischen Nord und Süd sowie zwischen West und Ost) offengelegt. Er ist zur Leitfigur nordeuropäischer Interessen geworden. "Da
Er tut dies so beharrlich, dass er ganz nebenbei eine uralte informelle Verfassung der EU geschreddert hat. Die herkömmliche EU-Machtregel, wonach Frankreich und Deutschland sich nur einig werden müssten und der Rest der EU dann schon brav folge, ist demonstrativ beendet. Rutte verkörpert das gewachsene Selbstbewusstsein des neuen Kleinstaateneuropas. Durch den Austritt Grossbritanniens hat sich das Machtgefüge in der Union verändert. Da ein Grosser weg ist, werden die kleineren Staaten nun wichtiger. Und da mit London zudem ein Stabilitätswortführer fort ist, füllen Holland und Österreich nun just diese Lücke.
Mark Rutte - das tapfere Schneiderlein der EU
Rutte hat auf diesem Gipfel nicht nur jede Menge Geld für Holland herausgepokert, er hat auch gegen sieben Gegner auf einen Schlag gepunktet. Gegen das selbstgefällige Machtdoppel Deutschland und Frankreich, gegen die vier grossen Hilfsgeldempfänger Italien, Spanien, Portugal und Griechenland sowie in einem Sonderfight gegen Viktor Orbáns Ungarn. Sieben auf einen Streich - das macht ihn in diesem Sommer zum tapferen Schneiderlein der EU.
Dass Rutte ein geschickter Stratege und Machtspieler ist, kann man in Holland seit Jahren beobachten. Schon seit dem 14. Oktober 2010 ist er Ministerpräsident der eigentlich schwer zu regierenden Niederlande. Mit wechselnden Koalitionen hat er flexibel und doch beharrlich die Kabinette Rutte I, II und III formiert. Bereits seit 2006 ist der 53-Jährige politischer Führer der bürgerlich-liberalen Volkspartei VVD.
Rutte hilft in schwierigen Lagen sein heiteres Gemüt. Er stellt sich grundsätzlich nur mit "Mark" vor und gilt bei seinen Landsleuten als ein "vrolijk mannetje" (fröhlicher Mensch). Er ist für einige Überraschungen gut: Er geht ohne Smartphone durchs Leben, fährt einen schrottreifen Saab und spielt leidenschaftlich gerne Klavier. Seit 2008 unterrichtet Rutte jeden Donnerstagmorgen ehrenamtlich Gesellschaftskunde an einer Hauptschule in Den Haag. Die meisten Schüler haben dort einen türkischen oder marokkanischen Migrationshintergrund. Wenn er donnerstags zum Ministerrat nach Brüssel muss, wartet um 10:00 Uhr eine kleine Autokolonne mit laufendem Motor vor dem Schultor.
Weg vom "Terror der Mittelmässigkeit"
Der 1,93 Meter grosse Rutte ist ein liberaler Freigeist. Er glaubt mit mehr Kapitalismus und weniger Staat lasse sich der Wohlstand für alle mehren. Die Zeitung NRC Handelsblad nannte ihn gleichwohl einmal den "am wenigsten materialistischen Politiker seit Gandhi".
Er wohnt in einer kleinen Etagenwohnung in Den Haag, und er wohnt dort seit Jahren alleine, ohne Frau. Schwul sei er aber nicht: "Ich bin einfach noch nicht der Richtigen begegnet." Meistens vermisse er nichts, manchmal aber doch. Als Rutte 22 war, starb sein 18 Jahre älterer Bruder - sein "grosses Vorbild" - an Aids. "Sein Tod hat meine Einstellung zum Leben drastisch verändert", räsonierte er später. "Mir ist seitdem klar, dass ich nur dieses eine Leben habe." Und dass man aus seinem Leben möglichst viel machen müsse.
Das gilt für ihn auch mit Blick auf ganz Europa. Man müsse weg vom "Terror der Mittelmässigkeit", hat er einmal verkündet. Reine Umverteilung von Geldern hinein in korrupte, marode Strukturen sei darum nicht hilfreich. Europa brauche eine Offensive bei Investitionen, Digitalisierung und Reformen. Das tapfere Schneiderlein hat einen Plan.
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