• Die Angst vor einem Krieg in Europa steigt, nachdem die jüngsten Gespräche zwischen der Nato und Russland ergebnislos endeten.
  • Moskau schickt derweil weiter Panzer und Soldaten in Richtung ukrainische Grenze – doch läuft nun tatsächlich alles auf eine Eskalation hinaus?
  • Wir erklären, welche Ziele Russland verfolgt, wie realistisch ein Krieg ist und welche Lösungsansätze es nach wie vor gibt.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen des Autors und der zitierten Experten einfliessen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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Russland hat seine Truppen in Bewegung gesetzt. Das zeigen nicht nur Dutzende Aufnahmen in den sozialen Netzwerken, das bestätigt auch das russische Verteidigungsministerium – und veröffentlicht gleich selbst Videos und Bilder davon. Diese zeigen Kolonnen von Militärfahrzeugen, Panzer auf Eisenbahnwagons und Soldaten. Im Wehrbezirk Ost habe es eine nicht angekündigte Überprüfung der Gefechtsbereitschaft gegeben, erklärte das Verteidigungsministerium am Freitag in der Hauptstadt Moskau.

Diese Unterstützungseinheiten bewegen sich nicht nur in Russlands Fernem Osten oder in Sibirien. Teile davon sind mittlerweile im Westen des Landes angekommen. Schon vergangenen Mittwoch begannen zudem im Süden Russlands, ebenso in unmittelbarer Nähe zur Ukraine, mehr als 10.000 Soldaten mit Manövern. US- und öffentlich einsehbaren Informationen zufolge sind schätzungsweise weiterhin rund 100.000 russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine im Einsatz – darunter befinden sich sowohl dort permanent stationierte Einheiten wie auch seit dem vergangenen Frühling neu hinzugezogene.

Viele Beobachter fragen sich deshalb: Bereitet sich Russland auf einen Krieg vor? Auf einen Einmarsch in die benachbarte Ukraine, in deren Separatistengebieten im Osten bereits seit 2014 russische Soldaten und Spezialtruppen ihren Dienst tun? Mit Hilfe mehrerer Russland-Expertinnen und -Experten versuchen wir die zentralen Fragen dieser komplexen Thematik zu beantworten.

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Was steckt hinter dem jüngsten Truppenaufmarsch von Russland?

Es gibt zwei grosse Interpretationen, sagt die Politikwissenschaftlerin Margarete Klein. "Die eine Interpretation ist die einer Machtdemonstration, Russland will sich Verhandlungen zusichern. Das Militär dient dabei als Druckpotential, um vor allem mit den USA ins Gespräch zu kommen", erklärt Klein. Sie leitet die Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Berliner Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik, die auch die Bundesregierung und den Bundestag berät.

Die andere Interpretation sei, dass es tatsächlich um eine Intervention geht – entweder direkt oder indirekt für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern. Das Problem ist: "Wir wissen nicht, wie Moskaus Kosten-Nutzen-Kalkulation aussieht. Der Kreml spielt mit seiner Unberechenbarkeit – und mit seiner militärischen Macht, die bereit ist, bis zum Äussersten zu gehen. Russland pokert im Moment sehr, sehr hoch", sagt Klein.

Welche Ziele verfolgt Russland?

Im Kern will Russland eine weitere Annäherung der Ukraine an den Westen verhindern, insbesondere die weitere Einbindung des Landes in Nato-Strukturen. Russland befürchte Klein zufolge, dass die Sicherheitspartnerschaft der Ukraine mit den USA enger wird, inklusive Ausbildung, Übungen und Waffenlieferungen. In dem Fall stehen sich also die Sicherheitsinteressen der Ukraine und Russlands diametral entgegen – trotz deutlicher militärischer Überlegenheit Moskaus gegenüber Kiews (siehe Grafik).

Ausserdem will die russische Staatsführung verhindern, dass die Ukraine die Separatistengebiete im Donbass zurückerobert. Diese Möglichkeit hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj immer wieder durchblicken lassen. "Insgesamt verlangt Russland aber mehr als eine blosse sicherheitspolitisch motivierte Pufferzone, sondern de facto eine Einflusszone im ganzen ehemals sowjetischen Raum", betont Klein.

Denn übergeordnet kommt die ständige Angst des Kremls vor einem Regimewechsel im eigenen Land dazu. "Die Proteste in Belarus waren ein Schock für Russland, als ein mehrere Jahrzehnte lang vermeintlich stabiles autoritäres Regime plötzlich herausgefordert wurde", sagt Klein. Russlands Führung sieht die Proteste (wie auch jüngst in Kasachstan) nicht als von lokalen gesellschaftlichen und politischen Kräften getragen, sondern als von aussen geschürte Einmischung. Beweise für diese ständig wiederholte Behauptung lieferte Moskau bisher nicht.

Was fordert Russland von der Nato und den USA?

Die genauen Vorstellungen Moskaus sind seit dem 17. Dezember klar. An dem Tag schickte der Kreml einen "Vertragsentwurf zwischen der Russischen Föderation und den USA" sowie eine "Vereinbarung über Massnahmen" mit der Nato nach Washington. Das russische Aussenministerium veröffentlichte beide Dokumente kurz danach. Sie sollen Russland langfristig Sicherheit garantieren und stellen eine komplette Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung dar. Denn die in Vertragsentwürfen enthaltenen Forderungen gehen sehr weit, unter anderem verlangt Russland:

  • ein Ende der Nato-Osterweiterung und dass das Bündnis auf die Aufnahme der Ukraine (sowie weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken, wie etwa Georgien) verzichtet
  • ein Stopp des weiteren Ausbaus der militärischen Infrastruktur der Nato in und ein Abzug der US-Truppen aus Osteuropa
  • ein Ende der westlichen Militärhilfe für die Ukraine
  • ein Verbot der Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa
  • keine Militärübungen der Nato in Russlands Nachbarstaaten (und teils darüber hinaus), selbst wenn diese ein Mitglied der Nato sind

Warum können sich Nato und Russland nicht einigen?

Was der Kreml als Angebot an den Westen sieht, sind in Wahrheit Maximalforderungen, die obendrein mit einem Ultimatum versehen sind. Und als Gegenleistung präsentierte die russische Führung: nichts.

Vor allem die in der Liste als letztes genannte Klausel würde bedeuten, dass die Nato beispielsweise in den Nato-Mitgliedsstaaten Estland oder Lettland keine militärischen Aktivitäten mehr durchführen könnte, während Russland sich das Recht beibehält, in seinem Hoheitsgebiet und in unmittelbarer Nähe der Nato-Grenzen tun und lassen zu können, was es möchte.

Russlands Forderungen widersprechen auch der Charta von Paris. Der Vertrag sollte nach der Wiedervereinigung Deutschlands im November 1990 das Ende der Ost-West-Konfrontation besiegeln. "In diesem Zusammenhang bekennen wir uns zum Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen", heisst es darin. Das unterschrieb auch die Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland ist. Doch Moskau gesteht dieses Wahlrecht den Ex-Sowjetrepubliken nicht zu.

Ein Teil der russischen Forderungen bezeichnet Klein deshalb als "absolut unverhandelbar". Logisch ist daher: Die Vertragsentwürfe kann der Westen nicht unterzeichnen.

Was spricht für einen russischen Einmarsch in die Ukraine?

"Wenn wir uns das Ausmass und die Strukturen des Truppenaufmarsches sowie die Rhetorik der russischen Führung anschauen, dann halte ich einen Einmarsch in die Ukraine für ein realistisches Szenario. Die Gefahr ist da und sie ist nicht klein", sagt die Politikwissenschaftlerin Sarah Pagung, Expertin für russische Aussen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

"Die Truppenbewegungen im Frühjahr hatten bei weitem nicht die Qualität und das Ausmass wie wir es jetzt sehen", sagt Pagung. Sie verweist zudem auf die mutmasslich russischen Cyberattacken auf ukrainische Regierungsseiten vor einigen Tagen und das im Februar beginnende Manöver in Belarus, dem nördlichen Nachbarn der Ukraine. Russland geht es demnach nicht mehr nur um den Donbass, den von Separatisten beherrschten Osten der Ukraine, sondern um das ganze Land. "Das militärische Vorgehen ist eingebettet in eine grosse diplomatisch-politische Strategie", sagt Pagung.

Ähnlich sieht das auch Russland-Expertin Klein: Bis vor Kurzem, als Russland die zwei Vertragsentwürfe präsentierte, "erschien der Truppenaufmarsch primär als Drohkulisse", sagt sie. Das habe sich nun geändert: "Die weiteren Verstärkungen sowie der zeitliche Druck, den die russische Führung mit den Vertragsentwürfen aufgebaut hat, sprechen dafür, dass die russische Führung ernsthaft mit der Möglichkeit einer militärischen Eskalation spielt." Klein verweist darauf, dass das Spekulieren über Russlands Entscheidungsgrundlagen und vermeintliche Unberechenbarkeit wiederum Teil des Versuchs ist, den Druck zu erhöhen.

Unbestreitbar ist, dass sich Russland "gerade ein gutes Gelegenheitsfenster" bietet, wie Klein sagt. "Die Mitglieder der Europäische Union ebenso wie die Parteien der Bundesregierung sind sich untereinander nicht einig, Frankreich steht vor der Präsidentenwahl und die USA blicken eher nach China." Dazu komme der Winter, in dem es militärisch günstiger sei loszuschlagen als im Frühling.

Russlands Staatschef Wladimir Putin selbst hat die Frage nach einem Einmarsch zuletzt offen gelassen. Das Staatsfernsehen fragte ihn, wie die Reaktion Moskaus im Falle eines Scheiterns der Gespräche ausfallen könnte. Die Antwort hänge "von den Vorschlägen ab, die mir unsere Militärexperten unterbreiten werden", meinte Putin.

Was spricht gegen eine militärische Intervention Russlands?

Die ökonomischen und politischen Kosten für Russland wären bei einem Einmarsch in die Ukraine hoch, die militärischen Kosten beträchtlich. Wenn es um den Einsatz von Gewalt geht, sei Russlands Präsident "vorsichtig und berechnend", schreibt der Politkwissenschaftler Dmitri Trenin im US-Fachmagazin "Foreign Affairs". Der Direktor der Denkfabrik Carnegie Moscow Center betont: "Putin ist nicht risikoscheu – die Operationen in Tschetschenien, auf der Krim und in Syrien sind der Beweis dafür –, aber in seinen Augen muss der Nutzen die Kosten überwiegen. Er wird nicht einfach in die Ukraine einmarschieren, nur weil die dortige Führung westlich orientiert ist."

Ein solcher Schritt würde zudem das russische Narrativ dauerhaft zerstören, Russen und Ukrainer wären ein einheitliches Volk ("Brudervolk"). Damit würde das aussenpolitische Problem zwangsläufig auch zu einem innenpolitischen werden. Es ist schwer vorzustellen, dass Putins Popularität mit einem grossen Krieg mit vielen Opfern steigen wird.

Putins Handlungen deuten aus Sicht von Trenin darauf hin, dass er nicht die Ukraine erobern, sondern vielmehr das Machtgefüge in Osteuropa wieder zurückdrehen will. "Wenn es ihm gelingt, die Nato aus der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau sowie die US-Mittelstreckenraketen aus Europa herauszuhalten, könnte er seiner Meinung nach einen Teil des Schadens wieder gutmachen, der Russlands Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges zugefügt wurde."

Auf welche anderen möglichen Szenarien muss sich Europa vorbereiten?

Ausserhalb einer militärischen Intervention bleiben Russland noch weitere Möglichkeiten zur Destabilisierung, sagt DGAP-Expertin Pagung mit Blick auf Cyberattacken und die Drosselung oder gar den Stopp von Gaslieferungen. Gerade letzteres ist ein Mittel, das Moskau gegenüber der Ukraine immer wieder angewandt hat.

Möglich ist auch, dass Russland an ganz anderen Stellen den Druck auf Europa erhöht, beispielsweise mit einem Ausbau der Unterstützung für die Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina oder einer fortschreitenden Intervention in Libyen und Mali, erläutert Klein. "Gerade Nordafrika und die Flüchtlingsproblematik besitzt für die südeuropäischen Länder eine grosse sicherheitspolitische Relevanz – und damit Druckpotential für Russland:"

Kann sich die Lage überhaupt entspannen?

In den Grundsatzfragen bestehen weiterhin "völlig gegensätzliche" Positionen, wie es Putins Sprecher Dmitri Peskow in einem am Sonntag ausgestrahlten CNN-Interview ausdrückte. Tatsächlich brachten alle bisherigen Gespräche kein Ergebnis. Allerdings herrsche laut Peskow in einigen Punkten Einigkeit zwischen Russland und dem Westen. Gleiche Interessen gibt es etwa bei der Aufrechterhaltung von Notfalltelefonen, bei Absprachen von Manövern oder bei Rüstungskontrollen und Abrüstung.

"Ja, es gibt Raum für Kompromisse", glaubt auch Pagung. Möglichen wären ihr zufolge, dass etwa das Normandie-Formats wiederbelebt wird, militärische Übungen begrenzt werden oder dass ein Moratorium für einen Beitritt der Ukraine zur Nato eingeführt wird.

"Letzteres würde aber nicht das zentrale Problem lösen", sagt Pagung. Denn der Konflikt um die Ukraine wird nicht nur militärisch geführt, sondern auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. Die Bewältigung der Krise wird also nur in die Zukunft verlagert.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Margarete Klein, Stiftung Wissenschaft und Politik
  • Gespräch mit Sarah Pagung, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
  • Aussenministerium der Russischen Föderation: "Press release on Russian draft documents on legal security guarantees from the United States and NATO"
  • Foreign Affairs: "What Putin Really Wants in Ukraine"
  • Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien: "Die Zukunft der europäischen Sicherheit – Was möchte Russland?"
  • Nachrichtenmeldungen der Deutschen Presse-Agentur
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