Die SPD steckt in der Dauerkrise. In neuesten Umfragen stürzt sie erstmals unter die 20-Prozent-Marke, ihre Inhalte werden kaum wahrgenommen, ihr Vorsitzender ist umstritten. Für den Niedergang gibt es viele Ursachen.

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Wird von der SPD gesprochen, ist oft von der "alten Dame" die Rede. Die 1875 im thüringischen Gotha gegründete Partei kämpfte schon im Kaiserreich für soziale Gerechtigkeit, bot Hitler die Stirn und hob die Bundesrepublik mit aus der Taufe.

Bei der Bundestagswahl 1972 holte sie unter Willy Brandt mit 45,8 Prozent ihr Rekordergebnis. Mehr als eine Million Mitglieder hatten die Sozialdemokraten damals.

2016 waren es nur noch 432.000. Bei den letzten drei Bundestagswahlen holte die SPD die drei schlechtesten Ergebnisse der Nachkriegsgeschichte. Die Summe der Mandate auf Bundes- und Länderebene nimmt kontinuierlich ab. Keiner ihrer letzten drei Kanzlerkandidaten hatte gegen Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) eine Chance.

In einigen ostdeutschen Bundesländern droht sie mit Wahlergebnissen um die 10-Prozent-Marke gar den Anspruch einer Volkspartei zu verlieren.

Wie ist der Niedergang der SPD zu erklären? Welche inneren und äusseren Faktoren haben dazu beigetragen?

Veränderung der Wählermilieus

Für den Abstieg der SPD gibt es innere Faktoren wie Personal oder Programmatik. Und es gibt äussere Faktoren. Also solche, auf die die Partei-Oberen keinen oder wenig Einfluss haben. Dazu gehört die Veränderung der Wählermilieus.

Noch 1972 machten zwei Drittel der Arbeiter ihr Kreuzchen bei der SPD. 2017 waren es nur noch 23 Prozent. Etwas weniger als bei der Union und kaum mehr als bei der AfD.

Eine straff, oft gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft ist in dieser Form nicht mehr vorhanden: Die Gesellschaft hat sich individualisiert. "Eine Volkspartei lässt sich heute nicht mehr so leicht organisieren wie vor 50 oder 100 Jahren", sagt Michael Donnermeyer, früherer Wahlkampfberater von Gerhard Schröder und Peer Steinbrück, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Weil die SPD besonders von ihrer Organisationskraft gelebt hat, bereitet ihr das Aufbrechen der Milieus grössere Schwierigkeiten als der Union.

Die Krise der Volksparteien

Die SPD hat 1998 unter Gerhard Schröder mit 40,9 Prozent ihr letztes Ergebnis jenseits der 40-Prozent-Grenze geholt. Auch bei der CDU/CSU sind im Bund Wahlergebnisse um die 50 Prozent wie zwischen den 50er bis 80er Jahren mittlerweile undenkbar.

CDU und SPD haben ihre Mitgliederzahl in den vergangenen Jahrzehnten praktisch halbiert. Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel sprach im "Tagesspiegel" von den Volksparteien als "Dinosaurier der Nachkriegsdemokratien".

Die SPD muss sich mit den Grünen und der Linkspartei, ein Zusammenschluss von SPD-Abweichlern und der SED-Nachfolgepartei PDS, im linken Parteienspektrum an zwei starken Konkurrenten abarbeiten.

"Die Entstehung der Linkspartei ist schon ein schmerzender Punkt für die SPD", erklärt Politstratege Donnermeyer. "Die haben zehn Prozent, die auf Bundesebene praktisch für eine Mehrheitsbildung nicht zur Verfügung stehen."

Schaut man nach Europa, geht es den deutschen "Sozis" aber noch vergleichsweise gut: Die Parti Socialiste in Frankreich und die Partij van de Arbeid in den Niederlanden holten bei den letzten Parlamentswahlen 7,4 bzw. 5,7 Prozent der Stimmen.

Schröders Agenda 2010

Die Reformpolitik unter Gerhard Schröder wird heute häufig als Haupterklärung für den Niedergang der SPD genannt. Obwohl Deutschland dank der seit 2003 schrittweise eingeführten Reformen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, beinhaltete die Agenda auch Zumutungen für sozial Schwache wie das Hartz-4-System.

Die traditionelle Bande zu den Gewerkschaften, die die Reformen als Verrat an der Arbeiterschaft betrachteten, wurde schwächer. Mit der Linkspartei entstand neue bundesweite Konkurrenz.

"Nur damit lässt sich die Schwäche der SPD nicht erklären", meint Michael Donnermeyer. "Die Agenda 2010 ist für einige, die immer dagegen waren, ein innerparteiliches Trauma, aber nicht für alle SPD-Mitglieder und ich glaube auch nicht für die Wähler."

Jedoch debattiert die SPD seitdem darüber, was für eine sozialdemokratische Partei sie eigentlich sein will. Und das Glaubwürdigkeitsproblem bleibt: Obwohl die SPD in der vergangenen Grossen Koalition mit dem Mindestlohn oder der Frauenquote einige Forderungen durchsetzen konnte, bleibt die Skepsis bei den Gewerkschaften und dem Rest der Arbeiterschaft gross.

Personalschwächen

Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz. Die letzten drei Kanzlerkandidaten der SPD hatten gegen Angela Merkel keine Chance. Und auch aktuell gibt es niemanden, dem man in den kommenden Jahren zutraut, die Begeisterung der Wähler für die SPD zu entfachen.

Der zwischenzeitliche Hype um Martin Schulz zu Beginn des Wahlkampfes erwies sich letztlich als Strohfeuer. Selbst Hamburgs populärer Regierender Bürgermeister Olaf Scholz, der als kommender Parteichef gehandelt wurde, ist kein Charismatiker, der Menschen mitreissen kann.

Andrea Nahles, Heiko Maas, Manuela Schwesig, Malu Dreyer – traut man ihnen zu, das Ruder herumzureissen? "Spiegel Online" schreibt angesichts des Personalangebots der SPD von "Alternativlosigkeit".

"Charisma kann natürlich auch an der Spitze nicht schaden", sagt Michael Donnermeyer. Genauso würden jedoch glaubhafte Inhalte und harte Arbeit zählen.

Programmatik

Für SPD-Kenner Donnermeyer waren die Inhalte ein Grund für die Schlappe bei der Wahl im Herbst 2017. Er sieht "das Fehlen eines geschlossenen inhaltlichen Angebots, das mit einer ausreichenden Geduld vermittelt wurde und zum Kandidaten gepasst hat", als Ursache für die Niederlage. Zudem hätte die Partei ihre Erfolge in der GroKo "selbstbewusster loben – und für mehr SPD um grössere Unterstützung werben müssen".

Die Partei konzentrierte sich während der vierjährigen Regierungszeit jedoch mehr auf die Sacharbeit, die CDU-Kanzlerin konnte viele Meriten einfahren.

Daher wünscht sich der frühere Wahlkampfberater künftig eine selbstbewusste SPD, die "zeitgemässe Antworten findet für ihre nach wie vor berechtigten Kernanliegen Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit."

Angela Merkel

Aus den letzten beiden Grossen Koalitionen (2005-2009, 2013-2017) ging die SPD deutlich geschwächt heraus. Viele SPD-Granden machen dafür direkt die Kanzlerin verantwortlich.

Martin Schulz warf der CDU-Vorsitzenden im Wahlkampf "Politikverweigerung" vor, sie würde "inhaltsleere Politik" betreiben und die Wähler "einlullen". Vorwürfe, die Merkel wie gewohnt an sich abprallen liess.

Noch problematischer ist für die SPD ohnehin, dass Merkel die CDU mit der Übernahme sozialdemokratischer Forderungen weiter in die Mitte geführt hat – und den Sozialdemokraten damit Raum genommen hat.

Wie geht es der SPD im Jahr 2018? Wo steht sie? Michael Donnermeyer verweist auf jüngere Wahlerfolge wie in Niedersachsen, die insgesamt sieben Regierungschefs auf Länderebene und Erfolge in den Kommunen. Aber er sagt auch: "Die Krisensymptome sollten sehr ernst genommen werden."

Dass die SPD in näherer Zukunft wieder eine 40-Plus-Partei werden wird, erscheint eher unwahrscheinlich. "Die meisten Demoskopen" schreibt "Zeit Online", "meinen, dass die SPD nicht abgestürzt ist – sondern sich einfach nur auf einem realistischen Niveau eingependelt hat."

Die alte Dame SPD dürfte auf absehbare Zeit ein Sorgenkind bleiben.

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