Befindet sich Deutschland auf dem Weg in eine Diktatur? Immer wieder ist dieser Vorwurf zu hören, aktuell gerade auf den Demonstrationen gegen die Corona-Politik. Der Politikwissenschaftler Professor Dr. Uwe Backes erklärt, was Demokratien von Diktaturen unterscheidet und warum sich Massnahmen wie die Maskenpflicht mit unseren Gesetzen vereinbaren lassen.

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Man hört es auf den Demonstrationen gegen die Corona-Politik, man liest es in den sozialen Medien: Deutschland sei eine Diktatur, behaupten manche Menschen, oder auf dem Weg in eine Diktatur. Auch von einer Meinungsdiktatur ist häufig die Rede.

Natürlich stimmt das nicht. Die Staatsform in Deutschland ist eine gut funktionierende parlamentarische Demokratie. Wahr ist aber auch, dass angesichts der Corona-Pandemie derzeit Grundrechte der Bürger eingeschränkt wurden.

Abstandsregeln müssen eingehalten werden, in bestimmten Situationen des alltäglichen Lebens Masken getragen werden. Im Frühjahr galten sogar Ausgangsbeschränkungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete das Virus kürzlich als eine demokratische Zumutung. Aber kann man deswegen von diktatorischen Massnahmen sprechen?

Die Einschränkung der Grundrechte muss verhältnismässig sein

„Das sind ohne Zweifel Einschränkungen von Grundrechten, die da vorgenommen worden sind“, erklärt der Politikwissenschaftler Professor Doktor Uwe Backes. „Aber sie finden die Billigung der grossen Mehrheit der Parlamentarier, die diese Einschränkungen überwachen. Der Grund ist die Ausnahmesituation, in der wir uns infolge einer Pandemie befinden. In solchen Situationen können natürlich immer auch bestimmte Grundrechte eingeschränkt werden. Wenn es einen triftigen Grund, ein höheres Gut gibt, in diesem Fall der Schutz des Lebens, können auch die Partizipationsrechte von Menschen eingeschränkt werden."

Das müsse natürlich immer verhältnismässig geschehen: "Der Eingriff in ein Freiheitsrecht muss in einem angemessenen Verhältnis zu der Bedrohung, dem Schaden oder dem Risiko stehen, das durch diesen Eingriff verringert werden soll.“

Und genau über diese Verhältnismässigkeit wird kontrovers diskutiert, in den Parteien, in den Medien, unter Wissenschaftlern und in der Bevölkerung. Die grosse Mehrheit der Parlamentarier und Menschen in Deutschland ist Umfragen zufolge mit den vorübergehenden Eingriffen in ihre Freiheitsrechte einverstanden, um die gesundheitlichen Risiken durch die Verbreitung des Virus zu mindern.

Was unterscheidet eine Diktatur von einer Demokratie?

Dass diese Massnahmen mehrheitlich und entsprechend unserer Gesetze beschlossen wurden, dass darüber diskutiert und gegen sie demonstriert werden kann, zeichnet eine Demokratie aus. Eine Diktatur - oder Autokratie, wie es in der Politikwissenschaft heisst - funktioniert anders.

„In autokratischen Regimen haben wir eine konzentrierte Exekutive, deren Macht nur wenig effektiv oder überhaupt nicht kontrolliert wird“, sagt Backes: „In demokratischen Verfassungsstaaten haben wir effektive Gewaltenkontrollen, die zwei wichtigsten Bereiche sind dabei erstens die Kontrolle durch Parlamente - es gibt also eine parlamentarische Kontrolle und wir schauen, wie effektiv sie ist. Zweitens die richterliche Kontrolle, die Judikative - also in Deutschland das Bundesverfassungsgericht, die Gerichte. Natürlich gibt es auch eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit, durch die Medien, die oft als die vierte Gewalt bezeichnet werden.“

Die Exekutive ist die ausübende Gewalt in einem Staat: die Regierung, die Verwaltung, die Ämter, die Polizei. In einer Autokratie ist die Kontrolle über die Exekutive auf eine einzelne Person oder eine kleine Gruppe von Menschen konzentriert. Ob und wie die Exekutive wiederum kontrolliert werden kann, ist für Backes eines der wichtigsten Merkmale, um zwischen Demokratien und Autokratien zu unterscheiden: „Also ob es andere Gewalten im Staat gibt, die effektiv die Exekutive beschränken können. Auf die die Exekutive achten muss, die sie berücksichtigen muss, die sie nicht übergehen kann. Diese Gewaltenkontrolle ist ein Grundgedanke jeder Verfassungsstaatlichkeit und dient dem Schutz der Freiheitsrechte.“

Gericht hebt Demonstrationsverbot auf

Ein Beispiel für die Kontrolle der Exekutive in Deutschland konnte Ende August beobachtet werden. Der Berliner Senat verbot zunächst die geplante Corona-Demonstration wegen der gesundheitlichen Risiken, woraufhin die Veranstalter klagten. Das Berliner Verwaltungsgericht hob das Verbot daraufhin wieder auf.

Generell sind die Grenzen zwischen Demokratien und Autokratien fliessend. Eine Gruppe von Politikwissenschaftlern der Universität Würzburg um Professor Doktor Hans-Joachim Lauth erstellte im vergangenen Jahr eine Demokratie-Matrix, in der 21 Länder der Welt als „harte Autokratien“ eingestuft wurden, darunter China und einige afrikanische Länder. Sämtlichen Ländern Westeuropas wurde der Status von lupenreinen Demokratien bescheinigt.

Ein wichtiger Indikator hierfür ist die Garantie freier und geheimer Wahlen. „Wahlen sind in demokratischen Verfassungsstaaten die entscheidende Legitimation des Regierungshandelns. Die Repräsentanten des Staates müssen sich Wahlen stellen, werden in Wahlen legitimiert und üben ihre Amtsgewalt auf Zeit aus. Nach dem Ende der Amtsperiode müssen sie sich wieder den Wahlen stellen“, sagt Backes.

Oppositionelle wurden in Belarus verhaftet

Die Wahl in Belarus Anfang August ist ein Beispiel dafür, wie Wahlen in einem autokratischen System ablaufen können. Gegenkandidaten von Präsident Alexander Lukaschenko wurden verhaftet, die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja musste nach Litauen fliehen. Wahlmanipulationen konnten nachgewiesen werden, die Polizei ging mit Gewalt gegen Demonstranten vor.

Angesichts der Bilder aus Belarus ist es schwer nachzuvollziehen, dass Menschen in Deutschland tatsächlich glauben, in einer Diktatur zu leben oder auf dem Weg in eine Diktatur zu sein. Es ist paradox, wenn bei Corona-Demos Menschen demokratische Rechte wie die Meinungsfreiheit und das Demonstrationsrecht nutzen, um Schilder in die Luft zu halten, die auf eine drohende Diktatur oder eine Meinungsdiktatur in der Bundesrepublik hinweisen.

„Ich glaube, dass es vielen Menschen, die auf die Strasse gehen, ungeachtet ihrer Motive und ihrer Ängste, die sie haben und die man ernst nehmen muss, an politischer Urteilskraft fehlt“, erklärt Professor Backes: „Das heisst, die angemessene Einordnung von Informationen, das Wissen um Zusammenhänge, die Einschätzung von Gefahren und Risiken. Das zeigt sich auch daran, dass innerhalb der Demonstrierenden Verschwörungsmythen abenteuerlichster Art kursieren, die überhaupt keine Faktengrundlage haben. Da kann man nur staunen, wie Menschen an so etwas glauben können.“

Verbreitet werden die Verschwörungstheorien vor allem über das Internet, über die sozialen Medien, über Facebook, Twitter oder den Messenger Telegram. Dass dies im Gegensatz zu Ländern wie beispielsweise China oder Nordkorea überhaupt möglich ist und in der Regel straffrei bleibt, ist ein weiterer Beleg dafür, dass in Deutschland Meinungsfreiheit herrscht. Und dass wir eben nicht in einer Diktatur oder Meinungsdiktatur leben.

Über den Experten: Der Politikwissenschaftler Professor Dr. Uwe Backes ist stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Gemeinsam mit Professor Dr. Eckhard Jesse ist er Herausgeber des Jahrbuchs Extremismus & Demokratie.

Verwendete Quellen:

  • Demokratiematrix 2019: Weniger Demokratien, mehr hybride Regime


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