Dass sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof immer mehr in Landesrecht einmischt, sorgt in der Schweiz für Unmut. Eine Volksinitiative verlangt, dass Schweizer Recht über jenem von "fremden Richtern" stehen soll. swissinfo.ch auf Augenschein in Strassburg.
Wären der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) und die Schweiz ein Ehepaar, es drohte eine Kampfscheidung: "Schweizer Recht statt fremde Richter" – mit der so genannten Selbstbestimmungsinitiative fordert die Schweizerische Volkspartei (SVP) unter anderem eine eigenständige Wahrung der Menschen- und Grundrechte. Konkret: Die Schweizer Bundesverfassung soll dem Völkerrecht vorgehen.
EGMR soll mehr Zurückhaltung zeigen
"Die Selbstbestimmungsinitiative ist die Reaktion darauf, dass der EGMR nicht bereit ist, sich die nötige Zurückhaltung aufzuerlegen", erklärt der ehemalige Bundesgerichtspräsident Martin Schubarth. Der EGMR treffe Entscheidungen, die dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten sein müssten.
Bei Nichtregierungsorganisationen stösst die Volksinitiative auf erbitterten Widerstand. Sie nennen sie "Anti-Menschenrechtsinitiative" und behaupten, die Initiative ziele auf eine Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ab.
Kampagne gegen Annahme der Initiative
Schweizer Bürgerinnen und Bürger könnten angeblich nicht mehr nach Strassburg, um sich gegen Rechtsverletzungen in der Schweiz zu wehren. Es wurde die Kampagne "Schutzfaktor M" lanciert, um die Annahme der Volksinitiative zu verhindern.
swissinfo.ch begibt sich auf eine von "Schutzfaktor M" organisierte Medienreise nach Strassburg, um sich ein Bild von den Beziehungen der Schweiz zum EGMR zu machen.
Wir werden empfangen von der Schweizer Richterin am EGMR, Helen Keller, die zwar jovial und lebendig eine souveräne Präsentation über den Gerichtshof hinlegt, gleichzeitig aber angespannt und defensiv wirkt. Die Selbstbestimmungsinitiative sorgt in Strassburg eindeutig für Nervosität.
Fehlendes Frauenstimmrecht als Hürde
Das Verhältnis zwischen dem EGMR und der Schweiz war von Beginn an eine Hassliebe: Als europäische Länder im Jahr 1949 unter dem Eindruck des Holocausts den Europarat gründeten und ein Jahr später die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedeten, war die Schweiz nicht dabei.
Nach Auffassung des damaligen Schweizer Aussenministers verunmöglichte die Neutralität der Schweiz eine Beteiligung an einer "politischen" Organisation. Zudem musste die Schweiz erst das Stimm- und Wahlrecht für Frauen einführen, bevor eine Ratifikation der EMRK überhaupt in Frage kam.
EMRK erst 1974 in der Schweiz ratifiziert
1974 war es dann so weit: Die Schweiz ratifizierte die EMRK – ohne das Volk zu fragen. Das könnte sich nun rächen, denn genau in diese Schwachstelle schlägt die Selbstbestimmungsinitiative. Aber dazu kommen wir noch.
Widerspenstig gab sich die offizielle Schweiz auch nach Ratifizierung der EMRK. Sie ist nebst Monaco das einzige der 47 Mitgliedsstaaten, die das erste Zusatzprotokoll zur EMRK nicht ratifiziert hat.
Der Grund: An den Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen wird mittels Handhochhebens abgestimmt. Damit ist das Stimmgeheimnis nicht gewahrt. Laut Zusatzprotokoll würde die Schweiz damit gegen Menschenrechte verstossen.
Weder Musterschüler noch Prügelknabe
Seit der EMRK-Ratifizierung ist die Schweiz vom EGMR gut 100 Mal verurteilt worden. Im Vergleich zu anderen Ländern ist das bescheiden. 97 Prozent der Beschwerden gegen die Schweiz werden für unzulässig erklärt.
Das heisst, die Fälle werden gar nicht verhandelt, weil das Gericht sich nicht zuständig fühlt oder die Beschwerde Mängel aufweist.
Bei den wenigen Fällen, die das Gericht beurteilt, stellt es in 59 Prozent der Fälle eine Verletzung der Konvention durch die Schweiz fest. Zum Vergleich: Russland wird in 95 Prozent der Fälle verurteilt.
Die Ukraine, Türkei, Ungarn, Russland, Rumänien und Italien sind geradezu "Stammkunden" des EGMR: Sie sind für die meisten Beschwerden verantwortlich und werden am häufigsten verurteilt.
Während die Schweiz die Urteile des EGMR praktisch immer umsetzt, gibt es bei diesen Ländern viele repetitive Fälle. "Wenn diese sechs Länder ihre Hausaufgaben machen würden, hätten wir es schön", sagt Keller und schmunzelt.
Wofür wird die Schweiz verurteilt?
Die Schweiz ist ein Land, das kaum wegen Tötungen, Folter oder Sklaverei vor Gericht steht. Die meisten Beschwerden gegen die Schweiz betreffen Fragen des fairen Verfahrens.
In diesem Bereich hatte die Rechtsprechung des EGMR grossen Einfluss auf das Schweizer Recht. Bis vor wenigen Jahren waren in der Schweiz die Zivil- und Strafprozessverfahren kantonal unterschiedlich geregelt, mit teils stossenden Bestimmungen.
Dass die Verfahren 2011 national vereinheitlicht wurden, ist zu einem grossen Teil der Rechtsprechung des EGMR zu verdanken.
Am zweithäufigsten wird gegen die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf Familienleben Beschwerde geführt. Häufig geht es dabei um die Ausschaffung oder Ausweisung eines Familienvaters.
Auch Ungleichbehandlung ist ein Thema
Ebenfalls häufig gerügt wird die Schweiz wegen Einschränkungen der Pressefreiheit oder Ungleichbehandlungen der Geschlechter. Auch die Sterbehilfe gab schon Anlass für Beschwerden.
Einige der Urteile des EGMR gegen die Schweiz haben bei der Schweizer Bevölkerung für Kopfschütteln gesorgt. Beispielsweise, dass ein krimineller Ausländer nicht ausgeschafft werden darf, wenn er in der Schweiz Kinder hat.
Oder dass Geschlechtsumwandlungen von der Krankenkasse bezahlt werden müssen. Oder dass das Leugnen des Armenier-Völkermords nicht bestraft werden darf, weil dies von der Meinungsäusserungsfreiheit umfasst sei – im Gegensatz zur Leugnung des Holocausts.
Auch dass die Auflösung eines Vereins mit illegalem Zweck die Menschenrechte verletzen soll, ist in der Schweiz schwer verständlich.
Laut dem ehemaligen Bundesgerichtspräsident Schubarth trifft der EGMR inzwischen Entscheide, die mit der Wahrung der Menschenrechte nichts mehr zu tun hätten.
Der Gerichtshof sei zwar wichtig für die Durchsetzung elementarer Menschenrechte, wie beispielsweise die indirekte Verurteilung der CIA wegen seiner Entführungs- und Foltermethoden. "Dass er sich inzwischen mit Lifestyle-Menschenrechten befasst, ist hingegen stossend."
Volksrechte versus Menschenrechte
EGMR-Richterin Keller betont, die Schweiz sei eine wichtige Stimme im Europarat. Eine Annahme der Selbstbestimmungsinitiative hätte eine fatale Symbolwirkung auf andere Länder.
Fest steht aber: Der Entscheid – gleichgültig wie er ausfällt – wird ein direktdemokratischer sein. Man kann von der Selbstbestimmungsinitiative halten was man will, den Volkswillen halten die Initianten jedenfalls hoch.
So sollen nur jene völkerrechtlichen Verträge für Schweizer Gerichte bindend sein, die zu irgendeinem Zeitpunkt vom Volk implizit oder explizit genehmigt worden sind.
Dass die Meinung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger entscheidend sein soll, ist ein schönes Symbol – auch für andere Länder. Wie steht es so schön in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt."
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