Das Thema Europa liegt Angela Merkel vermutlich am Herzen. Allerdings behandelte sie es bisher eher nüchtern. Ganz anders bei ihrem Besuch am Mittwoch in Brüssel: Zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft trifft sie einen neuen Ton und findet viel Unterstützung - nur einer wollte sich nicht einreihen.
Am Ende wurde
"Leidenschaft", "Vision", "Hoffnung": Für Merkel war es eine ungewöhnliche Rede, die sie vor den EU-Abgeordneten zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hielt.
Sie sprach über das inzwischen schon mehrfach präsentierte Programm für die nächsten sechs Monate - den Kampf gegen die dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, den Abschluss des Brexits, Klimaschutz, Digitalisierung. Aber eben bisweilen in ungewohnter Tonart.
Europa als Herzensangelegenheit entdeckt?
Insgesamt wirkt die CDU-Politikerin dieser Tage, als hätte sie nach fast 15 Jahren Kanzlerschaft nun wirklich Europa als Herzensangelegenheit entdeckt. "Ich glaube an Europa", rief sie den Abgeordneten zu. "Ich bin überzeugt von Europa - nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft."
Eindringlich pochte sie auf den Erhalt der Grundrechte wie Redefreiheit, Gleichberechtigung und religiöse Vielfalt in der EU. "Die Grundrechte, das ist das erste, was mir in der Ratspräsidentschaft am Herzen liegt", sagte Merkel. Sie seien das Fundament, auf dem Europa ruhe. Während der Corona-Pandemie seien sie zum Teil eingeschränkt worden, aber: "Eine Pandemie darf nie Vorwand sein, um demokratische Prinzipien auszuhebeln."
Das ging wohl auch an die Adresse des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, wie Merkel Mitglied der Europäischen Volkspartei. Den Namen nannte Merkel hier aber ebensowenig wie bei der Spitze, die sich mutmasslich gegen US-Präsident Donald Trump gerichtet haben dürfte. "Mit Lüge und Desinformation lässt sich die Pandemie nicht bekämpfen, so wenig wie mit Hass und Hetze", sagte Merkel. "Dem faktenleugnenden Populismus werden seine Grenzen aufgezeigt." In einer Demokratie brauche es Wahrheit und Transparenz.
Merkel: "Deutschland zu aussergewöhnlicher Solidarität bereit"
Ausdrücklich umwarb Merkel die direkt gewählten Abgeordneten als Vermittler der europäischen Sache - und auch ganz konkret für die erste und vielleicht schwierigste Aufgabe der deutschen Präsidentschaft: eine Einigung auf das geplante Konjunktur- und Investitionsprogramm zur wirtschaftlichen Erholung nach der Coronakrise. "Ich bin davon überzeugt, dass jeder in dieser Krise zur aussergewöhnlichen Solidarität bereit ist", sagte Merkel. "Deutschland ist es."
Sie hatte zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein Volumen von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen, die als Zuschüsse an die EU-Staaten gehen sollen. EU-Kommissionschefin
"Wir dürfen keine Zeit verlieren, darunter würden nur die Schwächsten leiden", sagte Merkel. Sie hoffe sehr, dass eine Einigung noch im Sommer gelinge. "Das wird noch viel Kompromissbereitschaft von allen Seiten erfordern - auch von Ihnen", sagte Merkel den Parlamentariern. Denn das Europaparlament muss am Ende zustimmen.
Von der Leyen stiess in ihrer kurzen Rede im Plenum ins gleiche Horn, aber mit anderen Zwischentönen. Sie betonte auffallend, dass die Empfänger der Hilfen dafür Bedingungen erfüllen müssten, nämlich Reformen angehen. "Jeder Mitgliedstaat ohne Ausnahme muss seine Hausaufgaben machen", sagte von der Leyen.
Deutsches Gespann an der Spitze der EU
Der Hinweis sollte offenbar die sogenannten Sparsamen Vier beruhigen - Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark -, die immer noch grosse Bedenken gegen das Milliardenprogramm haben. Merkel und von der Leyen spielten mit verteilten Rollen, aber doch in grosser Einigkeit: das deutsche Gespann an der Spitze der EU.
Auf die grossen Fraktionen im Europaparlament können sie sich bei dem Corona-Hilfsprogramm stützen, auch wenn von Liberalen, Grünen und Linken auch kritische Anmerkungen kamen. Eine volle Breitseite gegen Merkel feuerte indes AfD-Chef Jörg Meuthen ab. "Ignoranz, Infamie, Ideologie", warf der Europaabgeordnete der Kanzlerin vor, zählte sie zu den "Totengräbern" der europäischen Idee, zu den Verfechtern eines "sozialistisch motivierten Staatspaternalismus".
Spätestens da fand Merkel zu alter Sachlichkeit zurück. Den "Absolutheitsanspruch bestimmter Meinungen" halte sie für falsch, konterte sie Meuthen trocken. "Da werden wir zu keinen Lösungen kommen." © dpa
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.