- An der Grenze zwischen Polen und Belarus kampieren seit mehr als einer Woche Tausende Migranten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt.
- Migrationsforscher Gerald Knaus, Architekt des Flüchtlingsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Türkei, erklärt im Interview, was hinter der neuerlichen Krise an der EU-Aussengrenze steckt und wie sich die Lage entschärfen liesse.
Herr Knaus, Tausende Menschen, Männer, Frauen und Kinder, harren seit Tagen bei Eiseskälte an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus. Beide Staaten verhindern, dass sie dieses Gebiet wieder verlassen können. Wie konnte es so weit kommen?
Das ist ein zynisches Spiel eines grausamen Diktators, der nicht davor zurückschreckt, seine eigene Bevölkerung zu unterdrücken, einzusperren und in den Gefängnissen zu foltern. Was wir jetzt sehen, ist seine Reaktion auf die Sanktionen der Europäischen Union. Alexander Lukaschenko hat die Menschen mit dem Versprechen in eine Falle gelockt, sie kämen über Belarus sehr schnell nach Deutschland. Nach ihrer Ankunft in Belarus hat er sie als Geiseln genommen.
Es ist unbestreitbar, dass der Verursacher dieses Flüchtlingsstroms Lukaschenko ist. Bis zum Frühsommer existierte diese Route nicht, es gibt jede Menge Belege, dass das belarussische Regime die Menschen einfliegen lässt und direkt an die Grenze bringt. Welche Rolle spielt hingegen die polnische Regierung?
Ja, Lukaschenko ist ganz klar der Verursacher und bisherige Profiteur dieses menschlichen Dramas. Polen und die Europäische Union laufen Gefahr, hier zum Komplizen einer grausamen Instrumentalisierung von Menschen zu werden. Denn es gelten in der EU natürlich Gesetze. Wie der Schengener Grenzkodex, der ganz klar regelt, dass es ein Zurückweisungsverbot gibt, man also Schutzsuchende nicht in die Gefahr zurückstossen und ihnen das Recht auf einen Asylantrag nicht verwehren darf. Polnische Grenzschützer, Polizisten und Soldaten haben nicht nur dieses Gesetz mehrfach gebrochen, sondern auch die UN-Kinderrechts-, Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention.
Wie kann das sein?
Wir, also Europa, sind in eine dreifache Falle getappt – in eine moralische, politische und strategische. Wir haben uns in einen Wettbewerb der Brutalität mit einem skrupellosen Diktator begeben. Einen Wettbewerb, den eine Wertegemeinschaft wie die EU weder gewinnen kann noch darf. Wir finden kein Konzept, ohne dass die Flüchtlingsdebatte in der EU weiter polarisiert wird. Jetzt sagen noch alle "Wir sind mit Polen". Aber wenn die Zahl der Todesfälle an der Grenze weiter steigt, dann wird auch der innereuropäische Druck steigen, eine andere Strategie zu finden. Ich sehe dann die grosse Gefahr, dass der EU nichts anderes einfällt, als am Ende doch mit Lukaschenko zu verhandeln – das wäre eine desaströse Niederlage. Denn das würde zeigen, dass jeder Diktator nur ein paar Tausend Menschen an die EU-Aussengrenze bringen muss, um Brüssel so unter Druck zu setzen, dass es auf Sanktionen verzichtet.
"Die Europäische Union muss die Leute aufnehmen, die Polen erreichen"
Welches Signal sollte die EU jetzt in Richtung Lukaschenko senden?
Ich glaube, es braucht jetzt drei Signale: Erstens müssen die Sanktionen verschärft werden. Mit dem belarussischen Machthaber darf keinesfalls über die Strafmassnahmen verhandelt werden. Zweitens, die Europäische Union darf als Wertegemeinschaft auf Lukaschenkos Manipulationsversuche und Gewalt nicht mit Gegengewalt antworten. Die Europäische Union muss die Leute aufnehmen, die Polen erreichen. Das ist das dritte und wichtigste Signal: Wir sind nicht hilflos, wir sind nicht ohne Strategie.
Und welches Signal sollte an die polnische Regierung gehen?
Das wichtigste Signal an die polnische Regierung muss sein, dass es Alternativen gibt. Dass es eine Kontrolle gibt, die nicht EU-Recht verletzt.
Hat sich die EU nicht selbst erpressbar gemacht? Damit, dass sie weltweit – und mit Fug und Recht – auf die Einhaltung von Menschenrechten pocht, diese aber an den eigenen Aussengrenze ganz offensichtlich missachtet?
Ja, die EU hat sich durch ihr konfuses und passives Verhalten sowie durch das Versäumnis, eine realistische Strategie zu entwickeln, verwundbar gemacht. Das zeigt sich in dieser Situation dramatisch.
Warum bekommt die polnische Regierung für ihr teils menschenrechtswidriges Vorgehen so wenig Widerspruch und teils sogar Applaus, auch aus Berlin?
Seit einigen Jahren erleben wir eine Radikalisierung der Politik und der Sprache: Einerseits sind illegale Push-Backs, das gewaltsame Zurückstossen ohne jedes Verfahren, in der EU Normalität geworden, sei es an der kroatisch-bosnischen oder der griechisch-türkischen Grenze. An der ungarisch-serbischen Grenze werden Push-Backs sogar fein säuberlich protokolliert und von den Ungarn selbst veröffentlicht!
Auf der anderen Seite bedienen wir uns immer mehr den Metaphern eines Krieges. Auch jetzt ist wieder von "Invasionsarmee", "Menschen als Waffe" und "hybrider Kriegsführung" die Rede. Wir haben zunehmend vergessen, dass es hier um Menschen geht. Die Europäische Union macht Abschreckungspolitik auf Kosten der Menschenwürde.
Die Mehrheit der Europäer will Kontrolle an den Grenzen. Aber ich bin mir sicher, dass sie eine humane Kontrolle will. Nun zeichnet Lukaschenko das Bild eines Kontrollverlustes an die Wand. Da resignieren viele und geben den polnischen Grenzschützern oder den Soldaten eine Blankovollmacht. Und die machen dann halt, was sie machen.
"Es braucht eine Strategie, die verhindert, dass sich noch mehr Menschen nach Belarus begeben"
Wie könnte denn humaner Grenzschutz aussehen?
Das Wichtigste ist, dass wir erst einmal klarstellen, um welche Zahlen es geht: An der Grenze sind nur einige Tausend Menschen. Das klingt vielleicht viel, aber das ist nur halb so viel wie im Oktober 2015 an einem einzigen Tag nach Deutschland kamen! Dann muss klar sein: Diese Menschen dürfen nicht gewaltsam zurückstossen werden. Wenn sie nach Polen kommen, müssen sie aufgenommen werden. Und dann braucht es eine Strategie, die verhindert, dass sich noch mehr Menschen nach Belarus begeben.
Wie soll das funktionieren?
Zum Beispiel mit einem Stichtag. Wer danach noch über Belarus nach Polen kommt, wird zwar nicht zurück nach Belarus gestossen. Er wird aber seinen Asylantrag auch nicht in der Europäischen Union stellen können mit der Hoffnung, in Kürze in Deutschland zu sein, sondern in einem Drittstaat.
Sie haben vorgeschlagen, dass Deutschland und die USA mit der Ukraine oder der Republik Moldau einen "Anti-Erpressungspakt" schliessen sollen.
Wenn die ersten Flugzeuge mit einigen Hundert Menschen, die über Belarus nach Polen gekommen sind, in eine andere Demokratie, wie eben die Ukraine oder Moldau ausgeflogen werden, dann bin ich überzeugt, dass die Zahlen drastisch fallen. Es wird nicht viele Menschen geben, die Tausende Euro zahlen, um dann im Winter nach Belarus zu reisen und damit rechnen zu müssen, in die Ukraine gebracht zu werden. Mein Vorschlag wäre eine menschenrechtskonforme Strategie, denn das Flüchtlingsrecht verlangt nur, dass die Menschen eine Möglichkeit haben, irgendwo einen Asylantrag zu stellen und dort nicht menschenunwürdig behandelt werden, was in der Ukraine und in Moldau gegeben wäre. Zugleich wäre es ein starkes Signal an Russland, dass sich die EU nicht erpressen lässt und sich obendrein mehr und nicht weniger in Osteuropa engagiert, und die dortigen Demokratien unterstützt.
"Wir brauchen legale Wege und eine Einigung mit sicheren Drittländern"
Abgesehen davon, ob die ukrainische oder die moldauische Regierung da überhaupt mitmacht: Kein Syrier oder Kurde will doch in der Ukraine oder auch in Moldau bleiben, wenn die halbe Verwandtschaft in Deutschland ist. Wie wollen Sie verhindern, dass sich die Leute nicht weiter auf den Weg in die Bundesrepublik machen?
Der grosse Unterschied zwischen der Ukraine und Belarus ist, dass Kiew kein Interesse hat, diese Menschen gegen die EU zu verwenden. Auch wenn im Laufe der Monate eine grössere Zahl von Menschen aus der Ukraine weiterzieht, hätte das in keiner Weise den gleichen Effekt wie das, was wir jetzt an der Grenze zu Belarus sehen. Das Entscheidende ist, dass wir dem belarussischen Diktator die Möglichkeit nehmen, Menschen für seinen Machterhalt zu missbrauchen. Es geht nicht darum, um jeden Preis jede irreguläre Migration in die EU zu unterdrücken. Es geht darum zu verhindern, dass die Mehrheit in Europa aus Angst vor einem Kontrollverlust bereit ist, entweder ihre Werte zu opfern oder mit einem Diktator über die Rücknahme von Sanktionen zu verhandeln.
Ihr Vorschlag wäre vielleicht eine kurzfristige Lösung. Langfristig würde das aber dazu führen, dass sich die EU noch abhängiger von Drittstaaten macht als bereits jetzt. Wie anfällig dieses Konstrukt sein kann, hat sich doch beispielsweise im März 2020 gezeigt, als die Türkei einfach die Migranten in Richtung EU laufen liess.
Die Antwort darauf heisst Diplomatie, wir müssen Partner finden. Wir brauchen eine Strategie für unsere Nachbarschaft. Wir brauchen legale Wege und eine Einigung mit sicheren Drittländern, wo Asylsuchende direkt ihre Anträge stellen können und wohin abgelehnte Asylbewerber zurückgeführt werden können. Klar ist: Diesen Staaten müssen wir etwas anbieten, was sie auch brauchen. Das geht nicht mit einigen Presseerklärungen oder schnellen Ad-hoc-Lösungen.
Spätestens seit 2015 liegt das Thema auf dem Tisch, das heisst sechs Jahre wurde herumverhandelt und die 27 EU-Mitgliedsstaaten haben sich immer noch nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können. Warum soll das jetzt anders sein?
Deutschland geht bereits seit Längerem mit einer Gruppe von Staaten voran, um Lösungen finden und wartet nicht mehr auf die ganze EU, wo es ohnehin keinen Konsens geben wird. Ich glaube, die Verhandler von SPD, Grünen und FDP haben verstanden, dass es wichtiger ist, Lösungen auf Grundlage europäischer Werte und Gesetze zu finden, als um jeden Preis Lösungen mit allen anderen EU-Mitgliedsstaaten zu finden.
Ich bin auch deshalb moderat optimistisch, weil Deutschland – als eines der Hauptzielländer für Migration – ganz klar definiert hat, was seine Interessen sind: Dass man einerseits Kontrolle will, diese Kontrolle aber andererseits nicht auf Kosten der Menschenwürde erreicht werden soll. Im Sondierungspapier der Ampel-Parteien stehen die Eckpfeiler: eine Strategie auf Grundlage der Menschenwürde und Einigungen mit Drittstaaten, Beschleunigung von Rückführungen sowie der Ausbau von legalen Wegen, um das Sterben und das Leid an den Grenzen zu beenden. Jetzt muss die künftige Regierung nur noch den Mut haben, all das umzusetzen.
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