- Kaum kommt eine grössere Gruppe von Geflüchteten und Migranten an der EU-Aussengrenze zusammen, ploppen wieder die Warnungen vor einer Wiederholung der sogenannten Flüchtlingskrise auf.
- Vor allem die Grössenordnung und die Entstehungsgeschichte zeigen, dass es keine Parallelen zwischen 2015 und 2021 gibt.
- Vielmehr wäre ein Vergleich mit einem viel jüngeren Vorfall passender.
EU-Aussengrenze, Polizeitruppen und Tausende Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten. Die aktuelle Situation im Niemandsland zwischen Belarus und Polen weckt bei vielen Erinnerungen. Einige Politiker und Medien raunen nun bereits wieder von 2015, dem Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise.
"Es braucht jetzt klare Handlungen und Entscheidungen, sonst kann eine ähnliche Situation entstehen wie 2015", sagte CSU-Chef
Das bekannte Narrativ ist also wieder da, 2015 wird in regelmässigen Abständen in die politische Debatte eingebracht. Doch kann man die Balkanroute, Hunderttausende Asylsuchende und die politischen Begleitumstände vor sechs Jahren tatsächlich mit der aktuellen Lage am östlichen Rand der Europäischen Union gleichsetzen?
"Das ist gar nichts im Vergleich zu 2015!"
"Im Vergleich zu 2015 sind jetzt die Parameter ganz anders", sagt die österreichische Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien im Gespräch mit unserer Redaktion. Seit 2015 seien sowohl die europäische Grenzschutzagentur Frontex als auch die nationalen Grenzschutzbehörden "massiv aufgestockt" worden. Für Migranten sei es nun viel schwieriger, in die EU zu kommen, sagt Kohlenberger.
Das zeigt auch der aktuelle Fall: Die Menschen kommen gar nicht erst über die Grenze, und die wenigen, die es dennoch schaffen, werden oftmals sofort zurückgeschickt, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen – was illegal ist. Kohlenberger betont: "Vor sechs Jahren wurden die Grenzen offen gehalten, um genau solche Szenen wie jetzt zu verhindern, bei denen auch vor Gewalt gegen Migranten nicht zurückgeschreckt wird."
Der zweite grosse Unterschied ist die Grössenordnung, die Kohlenberger zufolge jetzt eine ganz andere Dimension habe: "Es geht nur um etwa 4.000 Migranten direkt an der Grenze, insgesamt etwa 10.000 in ganz Belarus – das ist gar nichts im Vergleich zu 2015!"
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat keine genauen Zahlen, wie viele Menschen an der Grenze ausharren oder in Belarus sind und auf internationalen Schutz hoffen, wie Sprecher Chris Melzer auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt. Man habe bisher dreimal von belarussischer Seite zu den Menschen gelangen können. "Wirksame Hilfe ist so aber nicht möglich", erklärt Melzer. Von polnischer Seite sei dem UNHCR der Zugang verweigert worden. Auch das ist ein Verstoss gegen internationale Konventionen.
Lukaschenko schuf neue Fluchtroute
Dazu kommt ein dritter, weiterer wesentlicher Unterschied: die Ursache der aktuellen Migrationsbewegung über Belarus. Denn erst seit dem Frühsommer versuchen Menschen aus kriegs- und krisengeschüttelten Staaten wie Syrien, Afghanistan und dem Irak vermehrt über die Ex-Sowjetrepublik in die Europäische Union zu gelangen. Das liegt am Agieren des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko.
Das autoritäre Regime hat die Flucht- und Migrationsroute frisch geschaffen – vorsätzlich. Zuvor hatte Lukaschenko gedroht, Migranten auf dem Weg in die EU nicht mehr aufzuhalten. "Wir haben Migranten und Drogen gestoppt – jetzt könnt ihr sie selbst fangen und selbst essen", sagte der Diktator am 26. Mai in einer Rede im Parlament – und machte seine Drohung war.
Früher gab es 70 Euro Prämie für einen aufgegriffenen Migranten
Das zeigen unter anderem Flugpläne, wie die "Welt am Sonntag" (Bezahlinhalt) berichtete. Und das bestätigt auch Alena Tschekowitsch von der belarussischen Menschenrechtsorganisation Human Constanta. "Ende Mai, Anfang Juni haben wir gemerkt, dass etwas passiert", sagt sie im Gespräch mit unserer Redaktion. Immer mehr Menschen aus dem Nahen Osten habe sie im Zentrum der Hauptstadt Minsk gesehen.
In den vergangenen Monaten sei zudem die Nachfrage nach Rechtsberatung gestiegen, die sie und ihre Kollegen für Geflüchtete und Migranten in Belarus anbieten. Die Unterstützung ist allerdings nur noch online und telefonisch möglich. Denn wegen ihrer regierungskritischen Arbeit haben die belarussischen Behörden Human Constanta – wie nahezu alle anderen NGOs im Land auch – verboten.
Dass der belarussische Staat die Fluchtroute nicht nur initiiert hat, sondern diese aktiv befeuert, berichtet neben Tschekowitsch auch ein belarussischer Grenzbeamter. Anonym erzählte er der belarussischen Zeitung "Nascha Niwa", noch vor einem halben Jahr habe es für jeden aufgegriffenen Migranten eine Prämie in Höhe von umgerechnet 70 Euro gegeben.
Bis dahin sei zudem schon ein Grüppchen von zehn Migranten ein solch "besonderes Vorkommnis" gewesen, dass man darüber sofort die Leitung des Staatlichen Grenzkomitees und die polnischen Kollegen informiert habe. Wenn es dennoch einer der Migranten über die Grenze geschafft hatte, habe es Verweise, Degradierungen oder Versetzungen gegeben.
Bewaffnete drängen die Menschen zur Grenze
Derzeit ist das genaue Gegenteil zu beobachten. Aktuelle Videoaufnahmen zeigen, wie bewaffnete belarussische Sicherheitskräfte die Migranten bis an die polnische Grenze begleiten, um sie anschliessend daran zu hindern, aus diesem Gebiet wieder zurückzuweichen. Beobachter berichten zudem von (Klein)Bussen, die die Menschen aus Minsk direkt an die Grenze bringen.
"Belarus nutzt die Menschen als Druckmittel gegen die EU", sagt Menschenrechtlerin Tschekowitsch mit Blick auf die Sanktionen, die die Mitgliedstaaten nach der brutalen Niederschlagung der Proteste im Sommer 2020 und nach der Entführung einer Ryanair-Maschine in diesem Mai erlassen haben. Tschekowitsch sieht hinter dem Vorgehen auch eine "Rache" für das deutliche Eintreten der polnischen und litauischen Regierung für die Demokratiebewegung in Belarus.
Aus Sicht von Migrationsforscherin Kohlenberger hat sich die Europäische Union "erpressbar gemacht", "weil sie selbst Deals mit Drittstaaten macht und ständig das Mantra wiederholt, man dürfte keine Migranten aufnehmen, weil dann immer mehr Menschen nachkommen würden".
Darüber hinaus stellen die EU und ihre Mitgliedstaaten Schutzsuchende als Last und Bedrohung dar, pochen aber zugleich – zu Recht – auf die Einhaltung von Menschenrechten. "Das alles schafft eine Sollbruchstelle, die der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko nun gezielt ausnutzt", erklärt Kohlenberger.
Gleiche Situation wie in der Türkei im vergangenen Jahr
Parallelen zu 2015 gibt es aktuell also nur begrenzt, umso mehr aber zu einem Vorfall im vergangenen Jahr. "In der Türkei haben wir im März 2020 fast exakt die gleiche Situation gesehen", sagt Kohlenberger. Damals liess der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Tausende Migranten in Richtung Griechenland passieren und brüskierte damit Brüssel. Die Lage an der Grenze spitzte sich zu, die EU schlitterte in eine Krise.
"Durch das EU-Türkei-Abkommen ist die Erpressungsmöglichkeit quasi hausgemacht", sagt Kohlenberger. "Man hat Erdogan erst Millionen geflüchtete Syrer in die Hand gegeben, die er dann als Druckmittel in aussenpolitischen Auseinandersetzungen nutzen kann."
Ihr zufolge könnte sich ein solches Szenario immer wieder wiederholen – egal an welcher EU-Aussengrenze: Das Problem sei systemisch, die Brennpunkte blieben so lange bestehen, wie die EU und ihre 27 Mitgliedstaaten keinen einheitlichen Umgang mit Geflüchteten und Migranten finden. "Und solange sie ausschliesslich auf Abschreckung, Abschottung und Auslagerung setzen", sagt Kohlenberger.
Verwendete Quellen:
- Telefonat mit Judith Kohlenberger und Alena Tschekowitsch
- Schriftliche Stellungnahme von Chris Melzer
- Die Welt: "'Beispiellose Lage an der Ostgrenze ist von einem komplett skrupellosen Regime verursacht'"
- Welt Nachrichtensender auf Youtube: Polen: Belarus! "Sobald man die Menschen über die Grenzen lässt, gibt es einen Sog ähnlich wie 2015"
- Nascha Niwa: "'Полная девальвация законов и присяги'. Действующий пограничник о ситуации на белорусско-польской границе"
- Recherchen auf Telegram und Twitter
- Meldungen der Deutschen Presse-Agentur
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