Schon zum 17. Mal hält Kremlchef Putin seine mehrstündige TV-Show für den direkten Draht zu russischen Bürgern. Die Fragen gehen in die Millionen. Die Sorgen der von Armut geplagten Menschen werden mit jedem Jahr grösser. Und was bietet der Präsident als Lösung?

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Stundenlang musste sich der russische Präsident Wladimir Putin die Sorgen seiner Landsleute bei der TV-Show "Direkter Draht" anhören. Löhne, die nicht zum Leben reichen; Ärzte, die das Weite suchen, weil sie umgerechnet nicht einmal 1.000 Euro im Monat verdienen; lebensnotwendige Medikamente, die fehlen – und kaputte Strassen und schmutziges Trinkwasser.

Teils mochte der Kremlchef in der 17. Auflage der Sendung am Donnerstag selbst nicht glauben, dass es so schlimm sein soll. Traditionell dient das Format, um ihn als obersten Problemlöser des Landes in Szene zu setzen. Aber ein richtiges Rezept für den wirtschaftlichen Aufschwung konnte der 66-Jährige nicht bieten.

"Wir müssen die Struktur der Wirtschaft ändern", sagt Putin. Weg von der Abhängigkeit von Öl und Gas. Hochtechnologie, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz - das sei die Zukunft. Nach 20 Jahren an der Macht klingt er in dieser nationalen Kummerstunde zeitweilig wie jemand, der die Lage von aussen beurteilt. "Wann wird es leichter?", fragt eine Bürgerin.

"Russland ist das Land ewiger Experimente", heisst es in einem Kommentar, den das Staatsfernsehen einblendet. Im Studio aber sitzen vor allem linientreue Russen, zum Beispiel der Star-Dirigent und Putin-Freund Waleri Gergijew und Ballerina Swetlana Sacharowa.

Nawalny: "Putin lügt live im TV"

Der prominente Anti-Korruptions-Kämpfer und Blogger Alexej Nawalny kommentiert mit anderen Oppositionskräften die Sendung aus der Ferne: "Putin lügt live im Fernsehen!", schreibt er bei Twitter. Im Staatsfernsehen berichten Moderatoren von massiven Hackerattacken auf die Sendung.

Wie seine jährliche Pressekonferenz im Herbst ist es längst ein Machtritual, bei dem Putin nichts zu befürchten hat. Er hat immer das letzte Wort.

Im Gegensatz zu früher lässt er sich inzwischen in der Sendung auch direkt mit Ministern, Gouverneuren und anderen Spitzenbeamten verbinden, um Aufgaben zu delegieren.

"Helfen Sie uns, Wladimir Wladimirowitsch!", rufen verzweifelte Bürger immer wieder. Dabei ist die Unzufriedenheit über die sozialen Missstände im Land inzwischen so gross, dass die Sendung eher wie eine Gruppentherapie wirkt und zeigen soll, dass es allen so geht.

Es werde viel versprochen, aber Ergebnisse fehlten, heisst es in vielen Wortbeiträgen. Einen Plan oder neue Ideen, wie sich die Lage im Land verändern lässt, gibt es nicht.

"Besorgniserregende Zustände" in Russland

Die Proteststimmung nimmt nach Einschätzung von Experten zu. "Die Bereitschaft zur Teilnahme an den Protesten ist fast doppelt so hoch wie sonst", meinte unlängst der Direktor des Forschungsinstituts Lewada, Lew Gudkow. Fast 30 Prozent der Russen seien mittlerweile willens, etwa für einen höheren Lebensstandard zu demonstrieren.

Auch der vor allem in liberalen Kreisen angesehene Chef des russischen Rechnungshofes, Alexej Kudrin, zeigte sich unlängst besorgt, dass die Armut im Land zu sozialem Sprengstoff werden könne.

19 Millionen Menschen - 13 Prozent der russischen Bevölkerung - lebten heute unter der Armutsgrenze. "Das sind besorgniserregende Zustände", sagte er.

Drittel der Russen kann sich keine Schuhe leisten

Dramatische Zahlen veröffentlichte im April auch das nationale Statistikamt, wonach sich ein Drittel der Russen nicht einmal mehr Schuhe leisten könne.

Fast 80 Prozent der russischen Familien gaben zudem an, finanzielle Probleme zu haben, wenn es um die nötigsten Waren gehe. Die Hälfte der Befragten konnte sich der Erhebung zufolge auch keinen Urlaub leisten.

Dem Kreml missfallen solche Zahlen. Dem angesehenen Experten Kudrin bescheinigte Kremlsprecher Dmitri Peskow eine emotionale Überreaktion. Aber auch Soziologen und Statistiker fuhr er an. Das mit den Schuhen könne er gar nicht nachvollziehen, sagte der Vertraute Putins, der laut offizieller Steuererklärung mehr verdient als der Präsident.

Peskow tat die Zahlen der Experten als akademische Rechnerei ab. Aber er ging noch weiter.

Als das immerhin staatliche Meinungsforschungsinstitut Wziom unlängst das Vertrauen in Putin mit einem historischen Tiefstand von 31,7 Prozent angab, massregelte er die Soziologen. Sie sollten doch schon die Frage anders stellen.

Sie fragten dann nicht mehr offen mit einer Auswahl verschiedener Namen, wie sehr sie diesem oder jenem Politiker vertrauten. Die Frage stellten sie direkt, wie stark das Vertrauen für Putin ist. Prompt verdoppelte sich der Wert auf mehr als 70 Prozent dank der neuen Methode. Doch sank auch der wieder.

Die Lage heute sei so, schrieb die Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" am Donnerstag, dass die Beamten lieber mit der Statistik als mit der echten Armut im Land kämpften. (jwo/dpa)  © dpa

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