Die Kraftprobe scheint unausweichlich: Die Landesregierung (Bundesrat) will sich den Versuchen einiger deutschsprachiger Kantone entgegenstellen, in der Grundschule nur noch eine Fremdsprache zu unterrichten. Derweil unterstreichen Experten die Notwendigkeit einer kohärenten und koordinierten Sprachenpolitik auf allen Ebenen.
Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) hatte das Gefühl, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben. In einem Kompromiss gab sie den Kantonen die Entscheidungsfreiheit, mit welcher von zwei Fremdsprachen – eine zweite Landessprache oder Englisch – sie in der Primarschule anfangen möchten.
Doch kaum war das Interkantonale Konkordat "Harmos" 2009 in Kraft, kam Opposition von Lehrpersonen und Elterngruppen, laut denen zwei Fremdsprachen eine unzumutbare Belastung für die Kinder seien.
In einigen Kantonen wurden Volksinitiativen gestartet, die verlangten, eine einzige Fremdsprache zu unterrichten.
Und im Kanton Thurgau hat die Leiterin der Bildungsabteilung ein Projekt ausgearbeitet, das Französisch erst ab der Sekundarstufe einführen will, dafür mit mehr Wochenstunden. Mit dem Ziel, bis zum Ende der Schulpflicht den gleichen Wissensstand zu erreichen wie bisher. Ein definitiver Entscheid wird bis im Herbst erwartet. Das neue Programm sollte ab dem Schuljahr 2018/19 eingeführt werden.
Instrument des Zusammenhalts
Die Forschung habe gezeigt, dass es beim Erlernen einer Sprache "wichtigere Faktoren gibt als das Alter, in dem mit dieser Sprache begonnen wird: Motivation, Kontext, Intensität, Menge und Qualität. Aber der Unterricht in einer Nationalsprache als erste Fremdsprache ist Teil einer wichtigen Symbolpolitik", sagt Renata Coray, Projektleiterin am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg.
"Historisch gesehen ist der Fremdsprachenunterricht sehr präsent im Diskurs über die Schweizer Identität und über den nationalen Zusammenhalt."
Tatsächlich sorgt das Thurgauer Projekt in den französischsprachigen Kantonen für Empörung. Und die Landesregierung erklärte am 13. Mai gemeinsam mit den Spitzen der Parteien, "dass die Mehrsprachigkeit eine bedeutende Säule für den Zusammenhalt in unserem Land ist".
Die Regierung hat deshalb die EDK "zur Vorbereitung allfälliger weiterer Schritte (…) um eine Einschätzung der Rechtslage gebeten". Deren Stellungnahme wird für den 23. Juni erwartet.
Berner Ultimatum an die Kantone
"Wir stehen in sehr engem Dialog mit der EDK. Wir beobachten die Entwicklung der Situation sehr genau, können aber angesichts dieser Situation auch nicht passiv bleiben", sagte Bildungsminister Alain Berset vor dem Parlament. Er präzisierte, die Bundesregierung würde rasch intervenieren, sollte der Thurgau oder ein anderer Kanton den obligatorischen Unterricht einer zweiten Nationalsprache aus dem Programm der Primarschule streichen.
Eine Intervention, die der Bund gemäss dem Minister basierend auf Artikel 62 der Bundesverfassung ergreifen könnte. Dieser wurde von Volk und Kantonen mit breiter Unterstützung angenommen.
Der Artikel stellt die Harmonisierung vor den Föderalismus: "Kommt auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen zustande, so erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften", heisst es dort.
Unbehagen auch in der Verwaltung
Das Unbehagen betreffend einer angemessenen Vertretung aller Landessprachen beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Frage des Sprachunterrichts in der Primarschule: "Man fühlt es auch im Diskurs über die sprachliche Repräsentation in der Bundesverwaltung", sagt Sprachforscherin Coray.
"Die Situation wird auf beiden Seiten immer schlechter", sagt Peter Knoepfel, Honorarprofessor an der Universität Lausanne. "Ich erinnere mich, wenn man vor 30 oder 40 Jahren durch Gebäude der Bundesverwaltung schritt, hörte man alle drei Amtssprachen. Heute erhält man den Eindruck, dass es eher eine deutschsprachige Monokultur geworden ist, oft mit Englisch durchmischt. Und ähnlich ist es in der Zivilgesellschaft, wo es Versuche gibt, die andere Landessprache zugunsten von Englisch zu verdrängen", sagt der Experte für öffentliche Politik.
Keine Daten
"Es ist schwierig zu beurteilen, ob sich die Situation wirklich verschlechtert hat, weil wir nicht über die ethnografischen Daten verfügen, um dies zu bestätigen oder zu entkräften", sagt Coray. Doch eines ist sicher: Das Ziel einer sprachlichen Zusammensetzung des Personals proportional zu der Bevölkerung ist in bestimmten Departementen, Abteilungen und Lohnklassen bei weitem noch nicht erreicht worden, auf Kosten der lateinischen Sprachen.
Das bedeute nun aber nicht zwangsläufig, dass die Deutschsprachigen nicht zumindest eine andere Landessprache sprächen oder verstünden, präzisiert Coray. Bis heute gebe es keine Daten über die individuellen Sprachkenntnisse, um feststellen zu können, ob diese den Anforderungen der Verordnung über die Landessprachen entsprechen würden. Diese Lücke soll im nächsten Jahr gefüllt werden. Damit soll ermöglicht werden, Probleme zu erkennen und damit Korrekturmassnahmen zu ergreifen.
Überzeugung, Koordination und Führung
Für die Spezialistin ist es ist wichtig, ständig zu informieren, zu sensibilisieren und zu überprüfen. Ihrer Ansicht nach ist der Weg einer intensiven Zusammenarbeit von Beamten, Wissenschaftlern und Politikern richtig, wie ihn die Delegierte des Bundes für Mehrsprachigkeit, Nicoletta Mariolini, vorgeschlagen hat. "Es ist wichtig, mit der Verwaltung und nicht gegen sie zu arbeiten", so Coray.
"Sensibilisierung und Zusammenarbeit sind ein fundamentale Arbeit, die nie aufhört", sagt Hans Stöckli, Präsident der parlamentarischen Gruppe "Mehrsprachigkeit CH". Stöckli war während 20 Jahren Stadtpräsident von Biel, der grössten zweisprachigen Stadt der Schweiz. Aufgrund seiner Erfahrungen ist der Berner Ständerat überzeugt, dass dieser Weg Früchte tragen wird.
Doch ein anderer Faktor ist laut allen Experten bei der Förderung der Mehrsprachigkeit zentral: Die Rolle der Führungsfiguren, sei es in der Verwaltung oder in der Politik. In anderen Worten: Beherrscht ein Amtsträger die anderen Landessprachen nicht, sind die Chancen auf Erfolg in seiner Abteilung gering.
Spielt die Kenntnis einer anderen Landessprache eine grundlegende Rolle für den Zusammenhalt des Landes, oder wäre es besser, sich auf Englisch als Verkehrssprache zu konzentrieren? Was meinen Sie? © swissinfo.ch
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