Eva Umlauf ist eine der jüngsten Holocaust-Überlebenden. Als Kleinkind kam sie in das Vernichtungslager Auschwitz, dessen Befreiung sich nun zum 75. Mal jährt. "Ich war ein Wrack, zum Tode verurteilt", sagt die gebürtige Slowakin heute. Wir haben mit ihr über die Deportation, ihren Umzug ins "Land der Täter" und neuen Antisemitismus gesprochen.

Ein Interview

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"Vergessen Sie das Kind, es wird nicht leben." Mit diesen Worten konfrontierten die Nationalsozialisten Eva Umlaufs Mutter Anfang 1945 im Vernichtungslager Auschwitz. Die Deutschen sollten unrecht behalten.

Zusammen mit ihren Eltern kam Umlauf als Kleinkind, noch fast ein Baby, in das Konzentrationslager und erkrankte dort innerhalb kurzer Zeit an Tuberkulose und Gelbsucht. Ihre Überlebenschancen waren tatsächlich minimal, wie Umlauf – selbst Kinderärztin und Psychotherapeutin – im Gespräch mit unserer Redaktion sagt.

Als wir die heute 77-Jährige für ein Interview kontaktieren, sagt sie sofort zu. Die gebürtige Slowakin will ihre Geschichte weitergeben. Das Leiden und Grauen begreifbar machen und auch warnen: Nie wieder.

Umlauf empfängt die Gäste in ihrer Wohnung im Süden Münchens, serviert Kaffee und Süssigkeiten. Nur wenige Tage später wird sie selbst nach Auschwitz reisen, um an den Gedenkfeierlichkeiten 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee teilzunehmen.

Wenn Sie an den Tag denken, an den Holocaust-Gedenktag und den Tag der Befreiung, was kommt Ihnen da zuerst in den Sinn? Mit was verbinden Sie diesen Tag?

Mit den sehr viel Ermordeten. Ich verbinde den Tag mit sechs Millionen Toten. Und das ist auch der Grund, warum ich auch dieses Jahr wieder zur Gedenkfeier nach Auschwitz fahre. Ich will mit meiner Anwesenheit der Opfer gedenken.

Ist dieses Jahr noch etwas besonderer als die vorigen Jahre?

Ich glaube schon, dass die runden Jubiläen etwas Besonderes sind. Das ist auch so, wenn wir unsere runden Geburtstage feiern.

75 Jahre nach Auschwitz sind schon ein Meilenstein, es ist ein wichtiger Schritt, an den man erinnern sollte. Wir werden ja auch immer weniger, die, die überlebt haben. Und deswegen ist das besonders wichtig. Wer weiss, was in fünf Jahren ist.

Eva Umlauf und ihre Mutter im Arbeitslager im slowakischen Nováky. Ein Lagerfotograf machte das Foto und gab es der Mutter nach dem Ende des Krieges. © 1&1

Warum ist es so wichtig, jedes Jahr, immer wieder der Opfer des Holocaust zu gedenken? Haben Sie Angst, dass sich so ein Verbrechen wiederholen könnte?

Ich habe keine Angst in dem Sinne, dass ich jeden Tag aufwache und vor Angst zittere. Aber ich finde schon, dass der Antisemitismus in der heutigen Zeit wahnsinnig wächst und es immer wieder neue Zwischenfälle gibt. Es ist ganz, ganz wichtig, dass wir alles tun, damit sich dieses Grauen nicht wiederholt.

Sie waren eine der jüngsten, vielleicht sogar die jüngste Auschwitz-Überlebende. Was ist ihre früheste Erinnerung an Ihre Kindheit?

An Auschwitz erinnere ich mich nicht bewusst. Aber ich erinnere mich auf jeden Fall an die Rückkehr in die Slowakei.

Die Leute sind auf der Strasse stehen geblieben und haben sich gewundert, dass wir leben. Sie haben uns "Wunder" genannt, meine Mutter und ihre zwei Kinder, ihre zwei kleinen Mädchen.

Alle haben mich so bewundert, mir Bonbons gegeben und mich am Kopf gestreichelt. Sie haben sich offensichtlich gefreut, dass ich lebe – wobei ich damals gar nicht verstanden habe, was das bedeutet. Ich habe gelebt und das war für mich selbstverständlich.

Haben Sie sich gefragt, warum Sie als etwas Besonderes wahrgenommen worden?

Das habe ich viel später verstanden, als ich realisiert habe, was mit unserer Familie passiert ist.

Sie wurden 1942 im Arbeitslager Nováky in der heutigen Slowakei geboren. Wie muss man sich dieses Arbeitslager für Juden vorstellen?

Nováky ist eine Kleinstadt im Südosten der Slowakei. Etwas ausserhalb war das Arbeitslager, dort haben wir in Baracken gelebt. Das war kein Vernichtungslager, es gab Werkstätten, Schneider, Schulen und ein Fotolabor.

Deshalb haben wir auch Aufnahmen von dort, die hat meine Mutter nach dem Krieg zurückbekommen. Es gab auch eine ärztliche Versorgung und es war möglich, Kinder zu kriegen. Es gab insgesamt fünf Geburten in Nováky – und ich war die erste.

Das Lager in Nováky war aber schon etwas aussergewöhnlich. Man konnte dort leben und man hat auch zu essen bekommen. Nicht übermässig, nicht zu viel. Aber man ist nicht verhungert.

Und trotzdem sind die Züge nach Auschwitz gefahren. Man wusste ganz genau, wann ein Zug kommt und wann der nächste Transport geht. Das war etwas, was mit Flüsterpropaganda vom Bahnhof bis ins Lager kam. Das weiss ich von den Überlebenden, den Erwachsenen, und aus Büchern, die über Nováky geschrieben wurden.

Den Menschen war also durchaus bewusst, was sie erwartet, wenn sie mit einem Zug nach Auschwitz deportiert worden. Dass die Fahrt im Tod endet.

Das haben sie gewusst, ja.

Sie und Ihre Eltern waren eine der letzten, die im November 1944 aus Nováky in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden. Nur durch Glück haben Sie überlebt. Noch zwei oder drei Tage vor Ihrer Ankunft wurden dort Menschen vergast. Sie waren damals ein kleines Kind und schwer krank: Tuberkulose und Gelbsucht.

Ich kam aus dem Arbeitslager gesund nach Auschwitz. Mit zwei Jahren und drei Monaten war ich ein Wrack, zum Tode verurteilt von einem Professor für Kinderheilkunde.

Aussage von KZ-Arzt wundert Umlauf nicht

Wie konnten Sie das überleben? Ihre Mutter war zu der Zeit hochschwanger mit Ihrer Schwester.

Man kann sich das so erklären, dass die Ärzte auch irren. Ich glaube, das grösste Verdienst, dass ich überlebt habe, gebührt meiner Mutter. Sie hat sich sehr gekümmert und sehr auf uns aufgepasst.

Wir waren schon ein bisschen overprotected – mit viel Angst, aber auch mit viel Hingabe und viel Liebe. Meine Mutter war sehr stolz darauf, dass die Prophezeiung von diesem erfahrenen Professor für Kinderheilkunde nicht in Erfüllung gegangen ist. Wenn ich mir jetzt aber aus fachlicher Sicht, als Kinderärztin, anschaue, welche Diagnose ich hatte, wundert mich nicht, was der Arzt sagte.

Wissen Sie, wie Ihre Mutter die Befreiung von Auschwitz erlebt hat? War das für sie ein glücklicher Moment oder ein Moment, an den man gar nicht mehr geglaubt hat?

Es war eine Mischung aus Freude und Chaos. Es waren keine SS-Männer mehr da, es war kein Mengele mehr da. Es herrschte Chaos. Die restlichen Nazis, die Deutschen sind weggelaufen, Dosen von Zyklon B lagen herum. Es war Chaos, aber erfreuliches Chaos.

Trotzdem mussten sie dort noch ein halbes Jahr bleiben.

Wir waren nicht transportfähig. Es war gar nicht möglich, uns in den Todesmarsch zu schicken. Die, die in Auschwitz geblieben sind, würden sowieso sterben, wir waren es nicht wert, weggeschickt zu werden.

Und dann kam am 27. Januar die Rote Armee und mit ihnen die ärztliche Versorgung durch das polnische Rote Kreuz und russische Ärzte. Es wurde ein Lazarett und ein Krankenhaus eingerichtet. Wir sind dort ein halbes Jahr geblieben, bis nach der Geburt meiner Schwester im April 1945.

Sie war sechs Wochen alt, als meine Mutter mit uns nach Trenčín in die Slowakei zurückkehrte. Meine Mutter kam dorthin zurück, um nachzuschauen, wer noch geblieben ist, wer von der Familie überlebt hat. Aber es kam niemand zurück.

Umlauf: "Wir waren wie Flüchtlinge"

Haben Sie sich mit Ihrer Mutter darüber unterhalten, wie Sie das alles erlebt hat?

Nein, wir haben uns nie darüber unterhalten oder ausgetauscht. Man tauscht sich jetzt aus über diese Sachen. Aber vor 75 Jahren hat man sich nicht ausgetauscht.

Man hat geschwiegen, weil man so traumatisiert war, dass man nicht fähig war, darüber zu sprechen. Das war auch ein Schutz. Man musste weiterleben, man musste weiterschauen, wo man wohnt, woher man Essen kriegt. Wir waren wie Flüchtlinge.

Sie haben auch ein Buch über Ihre Geschichte geschrieben. Wie war die Recherche für Sie?

Ich habe sehr viel Neues erfahren. Das Wichtigste war, dass es nicht stimmte, was meiner Mutter erzählt worden ist: Mein Vater ist nicht auf dem Todesmarsch erschossen worden. Vielmehr hat mein Vater diesen Todesmarsch überlebt. Er kam von Auschwitz nach Melk in Österreich, in ein Aussenlager des KZ Mauthausen. Dort kam er im März 1945 ums Leben.

Sie sind Ende der 1960er Jahre, noch vor dem Prager Frühling, nach München gezogen. Wie empfanden Sie es, im "Land der Täter" zu leben? Haben Sie bei jedem Treffen überlegt, wer Mitläufer oder wer aktiver Nazi war?

Ja, die Gedanken habe ich immer wieder gehabt, ich habe sie bis heute. Je älter ich werde, desto bewusster wird mir die Geschichte. Ich denke mir schon mal: Was hat denn dein Grossvater gemacht?

"Von Neuanfang und Schlussstrich kann keine Rede sein"

In Deutschland wird von einigen immer wieder gefordert, einen "Schlussstrich" zu ziehen. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Vielen würde das passen. Jenen, die diese Zeit und die Ermordung von sechs Millionen Leuten einen "Vogelschiss" nennen. Ich glaube, ein Schlussstrich ist gar nicht möglich. Die Vergangenheit beeinflusst die Opfer und genauso die Täter.

Wir können jetzt nicht sagen, wir fangen wieder von null an, als sei nichts passiert. Als hätten wir alles verziehen und es ist alles gut. Es ist unmöglich, die Vergangenheit zu leugnen oder auszuradieren. Die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart und damit auch die Zukunft. Von Neuanfang und Schlussstrich kann keine Rede sein.

Sie waren wohl die jüngste, der im KZ Auschwitz noch eine Nummer eintätowiert wurde: A-26959. Haben Sie jemals daran gedacht, diese entfernen zu lassen?

Die Nummer kann man unsichtbar machen. Heutzutage gibt es ja verschiedene Methoden, zum Beispiel mit Lasern. Aber ich habe nie daran gedacht, sie gehört zu mir wie ein Muttermal oder Runzeln.

Und auch wenn ich das Tattoo theoretisch entfernt hätte: Ich glaube nicht, dass man dieses Brandmal wirklich entfernen lassen kann. Oberflächlich ja, aber nicht aus der Tiefe der Seele.

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