"Die nächsten zwölf bis 18 Monate werden besonders gefährlich": Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke warnt ein Experte für Rechtsextremismus vor einer erhöhten Terrorgefahr. Als Grund dafür nennt er eine von Frust geprägte rechte Szene.

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Nach der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) hat der Rechtsextremismusexperte Gideon Botsch vor einer erhöhten Terrorgefahr gewarnt. "Die nächsten zwölf bis 18 Monate werden besonders gefährlich", sagte der Leiter der Forschungsstelle für Antisemitismus und Rechtsextremismus des Moses Mendelssohn Zentrums an der Universität Potsdam dem "Tagesspiegel".

Als Risikofaktor nannte Botsch eine von Frust geprägte rechte Szene - unter anderem durch die rückläufige Aufmerksamkeit für Proteste wie bei Pegida. Es sei "wahrscheinlich, dass mit dem Abflauen der Aufmerksamkeit für solche Gruppen die terroristischen Akte zunehmen werden".

Bis Mitte 2018 hätten diese Gruppen einen politischen Umsturz propagiert. Das habe nicht funktioniert. Dieser Frust könnte nun einige Zellen erneut mobilisieren und diese weiter radikalisieren.

Fall Lübcke: Forscher macht AfD und Pegida mitverantwortlich

"Die Feindbilder sind markiert", sagte Botsch, der auch die AfD in diesem Kontext verantwortlich macht. "Da hat die AfD deutlich mitmarkiert, da hat Pegida mitmarkiert. All diese Kräfte, die sich offiziell von Gewalt distanzieren, haben sehr deutlich zur Hetze beigetragen."

Die Bundesanwaltschaft hatte den Mord an Lübcke am Montag als politisches Attentat eingestuft und geht von einem rechtsextremen Hintergrund aus. Sie ermittelt gegen den 45-jährigen einschlägig vorbestraften Stephan E.. Er sei dringend verdächtig, Lübcke Anfang Juni heimtückisch durch einen Kopfschuss getötet zu haben, teilte die Karlsruher Behörde am Montag mit.

Bei dem tatverdächtigen Deutschen handelt es sich um einen mehrfach vorbestraften Mann, der nach Angaben aus Sicherheitskreisen zumindest in der Vergangenheit Verbindungen in die rechtsextreme Szene hatte. Spezialeinheiten hatten ihn am Samstag in Kassel gefasst, seit Sonntag sitzt er wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt hatte das Verfahren am Montag an sich gezogen.

Rechtsextreme Szene in Hessen besitzt Gewaltpotential

Die rechtsextreme Szene in Hessen besitzt laut dem Demokratiezentrum der Uni Marburg genug Gewaltpotenzial für eine Tat wie den Mord an Lübcke. "Wenn man die Chronik der Gewaltandrohungen in den letzten Jahren durchgeht, ist das nicht fernliegend", sagte der Leiter Reiner Becker auf Anfrage der dpa.

So habe es Drohungen gegen Bürgermeister in der Flüchtlingskrise gegeben und gegen die NSU-Opfer-Anwältin Seda Basay-Yildiz. Und im Fall Lübcke habe "möglicherweise jemand solche Drohungen leider wahrgemacht".

Laut Becker haben sich die rechtsextremen Strukturen verändert. "Im Vergleich zu einigen Jahren zuvor haben wir in Nordhessen und besonders in Kassel keine manifeste Szene mehr." Rechtsextreme Gruppierungen wie der Verein "Sturm 18" und der "Freie Widerstand" wurden verboten oder treten öffentlich nicht mehr in Erscheinung. Die klassische Kameradschaft gebe es immer weniger, lediglich die NPD und Identitäre Bewegung würden noch sichtbar auftreten.

"Das hat damit zu tun, dass es dieser Organisationsformen nicht mehr bedarf", sagte Becker. Menschen kommunizierten anders, soziale Netzwerke spielten eine grosse Rolle. Statt lokaler Vernetzung erlebe man eine hohe Mobilität zu Veranstaltungen mit rechten Anknüpfungspunkten.

So komme es zu skurrilen Mischungen, beispielsweise mit der Kampfsport-, Gelbwesten- oder Hooliganszene. "Selbst wenn es sich um einen Einzeltäter handeln sollte, darf man nicht davon ausgehen, dass er völlig isoliert von anderen Personen mit rechtsextremer Einstellung ist", betonte Becker.

Bundes-AfD glaubt nicht an Beginn von rechtsterroristischer Welle

Die Bundes-AfD glaubt indes nicht, dass das Attentat den Beginn einer rechtsterroristischen Welle markieren könnte. "Diese Gefahr sehen wir nicht", sagte der Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Christian Lüth, der Deutschen Presse-Agentur.

Auf den von Politikern anderer Parteien erhobenen Vorwurf, die AfD habe mit Verbalradikalismus den Nährboden für derartige Taten bereitet, antwortete er: "Nein, wir haben mit solchen Taten nichts zu tun."

Die AfD in Thüringen hat unterdessen Berichte zurückgewiesen, laut denen Stephan E. an den Landesverband gespendet haben soll. "Der Landesverband Thüringen der Alternative für Deutschland kann ausschliessen, dass es eine Spende des Herrn E. an die AfD Thüringen gegeben hat", teilte ein Sprecher am Montagabend mit. "Fest steht zudem, dass die AfD Thüringen in keiner Beziehung zu dieser Person steht."

Bedrohte Politiker reagieren bestürzt

"Das war ein eiskalter Mord an einem deutschen Spitzenpolitiker", sagte Politikwissenschaftler Hajo Funke der "Passauer Neuen Presse". "Er erinnert sehr stark an den Mord an Halit Yozgat im Jahr 2006 in Kassel, der der rechtsextremen NSU zugeordnet wird", sagte Funke.

Sowohl in Kassel als auch in Dortmund gebe es ein dichtes und gewaltbereites neonazistisches Netzwerk. Diese seien auch miteinander verbunden. "Das sind hochgefährliche Netzwerke", sagte Funke. "Die Bundesanwaltschaft ist inzwischen gut aufgestellt in diesem Bereich und hat Einblicke, die wir nicht haben."

Auch bei anderen von Drohungen betroffenen Kommunalpolitikern hat der Mord Ängste ausgelöst. Der ehemalige Bürgermeister der Gemeinde Tröglitz in Sachsen-Anhalt, Markus Nierth, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Dienstag): "Meine Frau und ich waren schon über die Mordnachricht sehr erschrocken. Und die Verhaftung macht uns natürlich auch grosse Angst. Denn die Erinnerungen an die eigenen angstbeladenen Wochen und Monate werden neu belebt."

Bei Lübcke sei "eine entscheidende Hemmschwelle überschritten" worden. Hier hätten rechtsextremistische "Terroristen durchgezogen, was sie sich seit Jahren in ihren perversen Gewaltfantasien erträumen". Nierth war nach seinem Einsatz für Asylsuchende von Rechtsextremisten 2015 bedroht worden und von seinem Amt zurückgetreten.

Der Bürgermeister von Altena (Nordrhein-Westfalen), Andreas Hollstein (CDU), sagte dem RND: "Wenn sich die Verdachtsmomente bestätigen, dann muss das umfassend aufgeklärt werden." Ein rechtsextremistischer Mord an einem Politiker "wäre eine neue Dimension, gegen die man mit der ganzen Härte des Rechtsstaates vorgehen muss. Man darf den Rechtsextremisten keinen Millimeter Spielraum lassen".

Hollstein war 2017 von einem Mann mit einem Messer attackiert worden, der sich während des Angriffs abfällig über Hollsteins liberale Flüchtlingspolitik äusserte. (pak/dpa)

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